ANATHEMA - Auf der Suche nach Licht und purer Schönheit

29. Mai 2014

Anathema

Der erste Eindruck trügt: Zunächst erscheint einem Anathemas aktuelle Veröffentlichung „Distant Satellites“ wie eine Fortsetzung des gefeierten, kommerziell erfolgreichen Vorgängers „Weather Systems“. Immerhin hat die Band die Platte ebenfalls mit dem norwegischen Produzenten Christer-André Cederberg in dessen Osloer Studio aufgenommen, Steven Wilson hat erneut zwei Songs abgemischt, und Dave Stewart zeichnet wieder für die herrlichen Orchesterarrangements verantwortlich. Alles wie gehabt, so scheint’s. Und doch, je öfter man „Distant Satellites“ hört, desto mehr musikalisches Neuland tut sich auf. Experimentelle synthetische Klänge bilden wie nie zuvor bei Anathema die Basis der Songs, treibende Beats bestimmen die Atmosphäre. Sänger/Gitarrist/Keyboarder Vincent Cavanagh freut sich, dass dies auch die Öffentlichkeit wahrnimmt.

Der 40-jährige Liverpooler ist mit seiner Formation einmal mehr auf der Suche nach neuen kreativen Herausforderungen. „Viel ist passiert in den letzten Jahren“, so der eher introvertierte, nachdenkliche Musiker, „das meiste davon ist für uns positiv gelaufen. Was vermutlich daran liegt, dass wir uns von der Außenwelt bei unseren Entscheidungen nicht haben beeinflussen lassen. So platt esoterisch das klingen mag, wir haben stets auf unsere inneren Stimmen gehört. Das ist die einzige Wahrheit! Und wir haben uns einerseits von Musik berauschen lassen, uns ihr intensiv gewidmet. Andererseits sind wir ihr an nicht wenigen Tagen bewusst aus dem Weg gegangen. Musik besitzt eine mächtige Energie, wenn man sich ihr stellt. Du musst aufpassen, dass du dich ihr nicht vollkommen auslieferst. Denn der Kreative, der etwas Neues, Orgiastisches schaffen will, muss auch Zeiten kennen, in denen er sich vor dieser alles verschlingenden Energie verschließt, wenn er nicht aufgefressen werden möchte.“

Man sieht an solchen Sätzen: Ein Gespräch mit Vincent Cavanagh ist aufreibend. Äußerst spirituell geprägt. Und unglaublich spannend.

eclipsed: Ist „Distant Satellites“ für euch eine Art „Weather Systems, Part 2“?

Vincent Cavanagh: Nein, ein direkter musikalischer Nachfolger von „Weather Systems“ ist „Distant Satellites“ definitiv nicht, wir sind ja alles andere als eine berechnende oder berechenbare Band. Wir machen es uns nie leicht, wenn wir an eine Produktion herangehen. Stattdessen versuchen wir, uns ständig weiterzuentwickeln, ganz egal, wie kommerziell erfolgreich eine Platte zuvor gewesen sein mag. Dieses Mal haben wir jedenfalls sehr viel experimentiert und improvisiert, während wir uns beim Vorgänger an eine klare Struktur hielten. Die Lieder waren fertig ausgestaltet, wir nahmen sie einfach nur auf. Es gab so gut wie keinen Platz für Ausflüge in fremde Welten. Dieses Mal dagegen haben wir uns in ein Raumschiff ohne Zielvorgabe gesetzt und sind einfach losgedüst. (lacht) Vor allem auf den Einsatz von zwei Schlagzeugern, die dem Ganzen einen besonderen Groove verpassen, sind wir sehr stolz.

eclipsed: Woher kommt all die Melancholie, die auf den meisten eurer Lieder lastet?

Cavanagh: Das liegt daran, dass wir sehr grüblerische, melancholische Menschen sind. Die Mitglieder dieser Gruppe sind durch sehr viele dunkle Phasen in ihrem Leben gegangen, das wollen wir nicht leugnen. Jetzt sind wir da weitgehend durch. Wir suchen mehr und mehr nach Licht, nach purer Schönheit. Diese Suche geht einher mit einer existenziellen Traurigkeit. Unter diesen Umständen entstehen unsere Stücke. Interessant ist an der aktuellen Produktion, dass man in den Texten kein einziges Mal die Worte „Du“ und „Liebe“ findet. Es geht also kein einziges Mal um zwischenmenschliche Beziehungen, stets um etwas Allumfassendes. Ziemlich abgehoben, oder? (lacht)

eclipsed: Gibt es ein lyrisches Konzept hinter den Lyrics?

Cavanagh: Wir arbeiten beim Dichten mit imaginären Farben, stellen uns also vor, welche Nuance zu welchem Inhalt passen könnte. Das ist tatsächlich so vertrackt, wie es klingt. (lacht) Wir versuchen, sehr fokussiert zu arbeiten, auch weitgehend philosophisch. Wir machen es uns gerne schwerer, als es sein müsste. Beim Komponieren spielen auch die äußeren Umstände mit hinein: „Distant Satellites“ haben wir bei durchweg grässlichem Wetter im Dezember und Januar in Oslo aufgenommen. Wir hingen ständig im Studio rum, weil es bei diesem ständigen Regen und Schnee wenig verlockend war, ins Freie zu gehen. Für die Kreativität und Intensität der Produktion war dieser Umstand allerdings wunderbar. Wir konzentrierten uns vollständig auf die Arbeit!

Lesen Sie mehr im eclipsed Nr. 161 (Juni 2014).