RICHARD PINHAS - Frankreichs Fripp, Frankreichs Froese

26. Oktober 2016

Richard Pinhas

Der Stellenwert von Richard Pinhas in Frankreich entspricht dem von Edgar Froese und Klaus Schulze in Deutschland: Er ist der Begründer, die Vaterfigur der elektronischen Musik. Im Gegensatz zu Jean-Michel Jarre hat er sich nie dem Kommerz hingegeben, sich nie zu theatralischen Gesten verleiten lassen, ist stets seinem Forschergeist treu geblieben. Seit den frühen Siebzigerjahren erwarb er sich mit seinen Bands Schizo bzw. Heldon und später mit unzähligen Soloalben eine enorme Reputation.

Und auch nach fast 50 Jahren Musikkarriere steht er weiterhin konsequent zu Experimenten. Jetzt legt Pinhas gleich zwei neue Alben vor: „Mu“ ist ein Gemeinschaftswerk mit dem kalifornischen Elektroniker Barry Cleveland, „Process And Reality“ wiederum zusammen mit den japanischen Noise-Avantgardisten Merzbow und Yoshida Tatsuya entstanden. eclipsed sprach mit dem Pionier nicht nur über Musik, sondern auch über seine Philosophie und die Weltpolitik.

eclipsed: Mit „Mu“ und „Process And Reality“ hast du zwei Alben zur selben Zeit veröffentlicht. 2014 hast du das mit „Welcome In The Void“ und „Tikkun“ auch schon gemacht. Steckt da System dahinter?

Richard Pinhas: Nein, eigentlich nicht. Fürs nächste Jahr ist nur ein Album geplant, das übrigens schon fertig aufgenommen ist und nur noch abgemischt werden muss. Jetzt ist das eher zufällig so entstanden: Immer mehr Leute sind in die Produktion der Alben involviert. Da hat man nicht immer die Kontrolle darüber, wann etwas fertig ist. Um ehrlich zu sein, wenn ich nichts zu lesen habe und mich langweile, produziere ich eben Musik. Gerne mit anderen Musikern.

eclipsed: Abgesehen von den verschiedenen Musikern, beschreibe bitte die Unterschiede beider Alben.

Pinhas: Die Alben sind sehr unterschiedlich. „Mu“ ist mit amerikanischen Freunden aufgenommen worden. Das war sehr viel Arbeit. Es ist sehr „konstruiert“. Mit vielen, vielen Instrumenten und großen Arrangements. Auch der Mix war sehr aufwendig. Barry Cleveland hat im Nachhinein noch viel Arbeit reingesteckt. Das war ein aufregendes Experiment. „Process And Reality“ habe ich mit meinem favorisierten japanischen Team, Merzbow und Yoshida Tatsuya, aufgenommen. Es wird eine zweiwöchige Tour durch Japan geben. Ich liebe es, mit den Japanern zu spielen. Es fühlt sich mit ihnen sehr gut an. Sie sind sehr extrem.

eclipsed: Du hast die Alben auf beiden Seiten des Pazifiks aufgenommen...

Pinhas: Ja, das eine in San Francisco, das andere in Tokio.

eclipsed: In San Francisco hast du „Mu“ aufgenommen. Mit einem Track, der „Zen/Unzen“ heißt. Hätte der nicht eher nach Tokio gehört?

Pinhas: Oh, „Mu“ ist kein japanisches Wort, sondern damit ist der griechische Buchstabe „μ“ gemeint. Aber das ist nicht Konzept. Barry hat den Titel ausgesucht. Ich kümmere mich nicht um die Titel und die Namen der Tracks. Aber selbstverständlich kann jeder den Titel auf eine andere Weise verstehen oder auslegen.

eclipsed: Auf „Mu“ hast du zum ersten Mal mit dem Bassisten Michael Manring und dem Schlagzeuger Celso Alberti zusammengearbeitet. Eine besondere Herausforderung?

Pinhas: Ich hatte mit den beiden schon ein paar Proben gespielt. Das ist länger her. Aber jetzt wollten wir die Sachen auch aufnehmen.

eclipsed: Sie scheinen die heimlichen Stars des Albums zu sein. So dominieren sie mit ihrem Spiel etwa den Track „I Wish I Could Talk In Technicolor“.

Pinhas: Oh ja, auch wenn das Album eine Gemeinschaftsarbeit von Barry und mir ist, so sind die beiden doch ganz stark involviert. Welchen Track meinst du? Ich muss gestehen, dass ich mir von Anfang an die Namen der Tracks nicht merken konnte.

eclipsed: „I Wish I Could Talk In Technicolor“ ist der 26-minütige Longtrack.

Pinhas: Ah ja, Celso hat ein riesiges Drumkit, auch ein großes elektronisches Drumkit. Und im Nachhinein hat er weitere Drums eingespielt. Barry hat das dann fantastisch gemischt. Ich kann mir die Namen von Songs übrigens allgemein kaum merken. Ich kenne die Musik von Jimi Hendrix genau, weiß aber die Titel der Lieder nicht. Die Musik merke ich mir, aber die Titel nicht. Bei neuen Alben vergebe ich einfach Nummern oder Buchstaben als Titel.

eclipsed: Wenn du tatsächlich in Technicolor sprechen könntest, was würdest du dann sagen?

Pinhas: Ich würde ganz still sein. Oder ich würde sagen: „Hört auf, Aleppo zu zerstören.“

eclipsed: „Mu“ wurde 2013 bei Jamsessions aufgenommen und besteht aus Improvisationen. Barry Cleveland machte sich an die Nachproduktion. Wie viel hat er verändert?

Pinhas: Er hat einiges getan in seinem Studio in Oakland. Ich habe dazu einige Bemerkungen gemacht und Anregungen gegeben. Ich schätze mal, dass 80 Prozent der gesamten Arbeit an diesem Album erst nach den Aufnahmen im Studio in Oakland stattfanden. Barry hat zwar nicht viele und keine grundlegenden Dinge geändert, aber enorm wichtige.

eclipsed: Das andere Album, „Process And Reality“, hast du mit deinen alten Bekannten Merzbow und Yoshida Tatsuya aufgenommen. Wie lief die Zusammenarbeit dieses Mal?

Pinhas: Nun, zunächst mal spielte Yoshida Schlagzeug und Merzbow die Synthesizer. Meine Gitarre wurde natürlich digital überarbeitet und verfremdet. Sie klingt überhaupt nicht nach Gitarre. Niemand hört also eine Gitarre. Dieses Album ist ein Gemeinschaftswerk. Wir haben versucht, alles zu dritt zu bewerkstelligen.

eclipsed: Mit „Process And Reality“ versuchst du, einen pessimistischen Blick auf die aktuelle Weltsituation und auf die moderne Gesellschaft in Musik umzusetzen, ganz ohne Lyrics. Wie kannst du den Inhalt vermitteln?

Pinhas: Ich denke, Musik kann ausdrucksstärker sein als Worte. Jeder kann etwas ausdrücken mit Worten. Aber mit Musik kannst du dramatischer, expressiver, effektiver zu Werke gehen. Für mich war ein Buch des englischen Philosophen Alfred North Whitehead wichtig: „Prozess und Realität“ von 1929. Von diesem Buch ist natürlich auch der Albumtitel abgeleitet.

eclipsed: Whitehead war auch Mathematiker.

Pinhas: Ja, er war studierter Mathematiker, und als er sich zur Ruhe setzte, widmete er sich der Philosophie und wurde ein bedeutender Philosoph. Das Buch ist eine Vision, wie sich die Welt über 20 oder 30 Jahre entwickeln könnte. Wie sie eine bessere sein könnte. Besser, als du es gerade mit deinen eigenen Augen siehst. Die Welt ist gerade alles andere als perfekt.

eclipsed: Denkst du, der Hörer, der nichts von diesem Zusammenhang weiß, wird ihn erkennen, nur indem er die Musik hört?

Pinhas: Ich hoffe es. Ich denke aber nicht, dass das wichtig ist. Wichtig ist stattdessen, dass wir, die Musiker, mögen, was wir geschaffen haben. Und auch, dass der Hörer es mag. Er kann sich dabei denken, was er will. Du kannst es interpretieren, wie du willst.

eclipsed: Du hast in den letzten Jahren auf diversen Alben dieses Thema gewählt: den Untergang bzw. den Zusammenbruch der modernen Welt. Ist das eine Art Philosophie hinter deiner Musik?

Pinhas: Wir sind gerade in einer Phase, in der sich die Welt verändert. Für diese Generation ist es eine wirklich schlechte Zeit. Ich reise viel herum in der Welt und spiele eine Menge Konzerte. Da sehe ich viel. Und ich habe den Eindruck, dass vieles den Bach runtergeht.

eclipsed: Wenn du an all die aktuelle Probleme in der Welt denkst: den Terrorismus, den Krieg in Syrien, den Konflikt in der Ukraine, den Flüchtlingsstrom, die Finanzkrise, den Brexit…

Pinhas: Oh, ich denke, das größte Problem ist der Neoliberalismus. Nicht zu vergessen die amerikanischen Bombardierungen im Nahen Osten. Auf der anderen Seite denke ich aber auch, dass es ein Fehler war, dass wir uns in Europa nicht genügend vorbereitet haben auf den Flüchtlingsstrom. Seit 20 oder 30 Jahren konnte man voraussehen, dass eines Tages viele, viele Menschen aus den ärmeren Regionen der Welt nach Europa kommen würden. Jetzt haben einige Leute in Frankreich die Angst, dass aus ihrer Heimat ein muslimisches Land wird, denn eine nicht kleine Minderheit versucht, die Scharia einzuführen. Es ist ein Problem. In den Vorstädten Frankreichs ist es wirklich schlimm.

eclipsed: Denkst du, das alles führt zu einem Zusammenbruch oder werden wir Lösungen finden?

Pinhas: Das hängt vom jeweiligen Land ab. Ich weiß nicht so viel über die Bedingungen in Deutschland. Ich denke, in England könnte es gut ausgehen. Aber ich fürchte, dass es in Frankreich sehr schnell zu einem Kollaps führen könnte. Schon ein Tropfen kann das Fass zum Überlaufen bringen. Die Stimmung kann schnell umschlagen. Zum Beispiel kommt es in Krankenhäusern oder Postämtern immer öfter zu Vorfällen, weil viele Menschen wütend oder gar aggressiv sind – wegen religiöser Dinge. Und dabei leben wir noch in einer freien Gesellschaft. Wir leben nicht in einem religiösen Land, was hoffentlich auch nie mehr der Fall sein wird. Und was Europa im Ganzen betrifft, da weiß ich wirklich nicht, wie es ausgeht.

eclipsed: Du hast einen Doktortitel in Philosophie. Welchen Einfluss hat die Philosophie auf deine Musik? Oder andersherum gefragt: Sind deine Alben vielleicht Musik gewordene Philosophie?

Pinhas: Meine Studien der Philosophie beschäftigten sich im Wesentlichen mit den Begriffen Zeit, Ereignis, Wiederholung, Verzögerung und Dauer. In der Tat spiegelt sich genau das auch in meiner Musik: Repetitionen, Sequenzen, also dasselbe Grundprinzip, derselbe operative Prozess und dieselbe philosophische Reflexion, neben anderen inspiriert von Friedrich Nietzsche, dem berühmten deutschen Philosophen.

eclipsed: Berühmt und berüchtigt.

Pinhas: Nicht unbedingt. Wenn du dich nur genügend mit ihm beschäftigst, ist das gar nicht so ein schwieriger Stoff. Wenn ich als Gitarrist plötzlich Schlagzeug spielen will, ist das zunächst schwierig. Aber wenn ich es wirklich will, kann ich versuchen, es zu lernen. Es ist anfangs schwierig, aber mit der Zeit kann es leichter werden. Es gibt durchaus leicht zugängliche Poesie in „Also sprach Zarathustra“. Aber fühl dich jetzt nicht verpflichtet, Nietzsche zu lesen. Es gibt meiner Meinung nach jedoch einige wirklich wichtige Romanciers, etwa Franz Kafka oder William Faulkner.

eclipsed: Zurück zur Musik. Gibt es Musiker oder Künstler, die dich in letzter Zeit inspiriert und beeinflusst haben?

Pinhas: Okay, Jimi Hendrix oder King Crimson, die gewiss einen Einfluss hatten, kann ich auf diese Frage als Antwort wohl nicht nennen. Aus der aktuellen Musikszene muss ich zwei fantastische Künstler erwähnen, die mich in den letzten zehn Jahren fasziniert haben: zum einen Godspeed You! Black Emperor. Die habe ich einige Male live gesehen. Zum anderen Aphex Twin. Ich denke, Richard James von Aphex Twin ist ein Genie. Er spielt nun die Rolle, die Brian Eno vor 40 Jahren innehatte. Wenn ich live spiele, insbesondere bei Festivals, sehe ich auch viele elektronische Bands. Ich bin dann sehr überrascht, dass viele von diesen – ich schätze mal 90 Prozent – nur die Musik der 70er reproduzieren, etwa die Berliner Schule. Aber manchmal werde ich auch überrascht. Es gibt ganz unbekannte Bands, die sich an Neues wagen und sehr gut sind.

eclipsed: Du hast gerade die Berliner Schule erwähnt. Ein Wort bitte zu Edgar Froese.

Pinhas: Er hat sehr wichtige Dinge getan. Ich selbst habe die Musik von Edgar Froese und auch von Klaus Schulze erst sehr spät entdeckt. Das war 1975. Einige Jahre, nachdem ich begann, Musik zu machen. Ich liebe die ersten Alben von Tangerine Dream. Aber irgendwann schien es für mich nur noch die Wiederholung derselben Musik zu sein. Für mich ist die wichtigste deutsche Band Kraftwerk. Ich mag ganz besonders ihre Anfangswerke. Ich habe sie oft live gesehen, auch 2013 beim Sonar Festival in Barcelona und erst letztes Jahr im November in Nantes. Sie sind immer noch fantastisch. Sie setzen ihre Musik live extravaganter als jede andere deutsche Band um, mit Ausnahme von Rammstein natürlich. Ich meine, Edgar Froese war wichtig. Wenn du vier, fünf wichtige Alben machst, an die sich die Leute immer erinnern werden, dann hast du schon sehr viel erreicht. Jimi Hendrix hat drei solche Alben produziert, und er ist der wichtigste Rockgitarrist aller Zeiten. Aber Edgar Froeses Werk hat mich letztlich nicht beeinflusst, weil ich es erst spät kennengelernt habe.

eclipsed: Wenn dich jemand den Edgar Froese oder den Klaus Schulze Frankreichs nennt, wie reagierst du darauf?

Pinhas: Oh, ich selbst bin eher der Rock’n’Roller. Man kann mich nennen, wie man will. Es kümmert mich nicht. Natürlich ist es aber ein Kompliment, wenn man mich so bezeichnet, weil ich sehr viel Respekt vor beiden habe.

eclipsed: Es gibt auch einen großen Unterschied zwischen den beiden und dir, weil du nach all den Jahren immer noch experimentierst. Fühlst du dich deshalb eher wie der Robert Fripp der elektronischen Musik?

Pinhas: Ich weiß nicht. Robert und ich sind seit Langem befreundet. Wir haben uns oft getroffen. Wenn du dir meine frühere Band Heldon in den 70er-Jahren anschaust, dann war das doch anders als King Crimson, anders als alles andere. Viele Leute vergleichen Heldon mit Throbbing Gristle. Ich habe sehr viel Respekt vor King Crimson.

eclipsed: Deine Karriere als Musiker dauert nun fast ein halbes Jahrhundert. Was waren für dich die Highlights?

Pinhas: Gerade in den letzten fünf Jahren habe ich einige in meinen Augen fantastische Konzerte gespielt, einige allein, einige mit meinen japanischen Freunden. Auch das 2014er-Album „Welcome In The Void“ gefällt mir prima. Das Schlechte an der heutigen Zeit ist, dass das Internet uns Musiker sehr arm macht, weil kaum noch jemand CDs oder Schallplatten verkauft. Von Spotify oder ähnlichen Plattformen kriege ich nur sehr wenig Geld. Ich ziehe es daher vor, so viel wie möglich kostenlos im Netz anzubieten, aber nicht in MP3-Form, sondern über SoundCloud in Topqualität mit einem Topmixing. Wenn du mal auf SoundCloud nachschaust, siehst du, dass ich dort Stunden über Stunden an Musik zur Verfügung gestellt habe. Richard James von Aphex Twin hat es genauso gemacht. Das ist einfach ein politisches Ding.
eclipsed: Was steht in nächster Zeit für dich an?

Pinhas: Ich werde noch ein paar Konzerte in Frankreich geben. Anschließend geht es für 18 Konzerte in die USA, danach folgt Japan. Dann komme ich nach Hause und lege mich schlafen. Anfang des nächsten Jahres, im Januar oder Februar, wird es auch eine Überraschung in Deutschland geben. Ich will aber noch nichts verraten.

eclipsed: Unterscheidet sich deine Musik live von den Studioalben?

Pinhas: Live ist es sehr laut. Ja, wir spielen sehr laut, das ist mit den Japanern so. Das ist halt Noise. Auch wenn wir keine Noise-Musik machen. Mit Merzbow, Yoshida und auch mit Keiji Haino ist es immer laut. Wir haben schon ein paar Mal als Quartett gespielt, in Tokio und auf einem Festival in Kanada. Im November werden wir dann weitere Konzerte als Quartett geben. Du kannst damit rechnen, dass es laut wird.

eclipsed: Ist die Lautstärke für dich Teil der Kunst?

Pinhas: Sie ist jedenfalls nötig, um die Körper der Zuschauer in Bewegung zu setzen. Lautstärke ist wichtig, denn sie ist ein wesentlicher Baustein der Rock’n’Roll-Geschichte. Wie schon gesagt: Ich sehe mich eher im Rock’n’Roll beheimatet als in der elektronischen Musik.

* * * Interview: Bernd Sievers