ST. VINCENT - Gerichtstag

25. Oktober 2017

St. Vincent

Annie Clark alias St. Vincent ist everybody’s darling: Die 35-Jährige US-Sängerin/Gitarristin begeistert Kritiker wie Kollegen, feiert beachtliche kommerzielle Erfolge und war durch die Liaison mit einem englischen Starmodel sogar Stammgast in der Klatschpresse. All das verarbeitet sie auf ihrem Album „Masseduction“, mit dem sie Gericht über ihre Umwelt und sich selbst hält. Es tritt zugleich ein schweres Erbe an: Der selbstbetitelte Vorgänger von 2014 wurde mit einem Grammy ausgezeichnet. Wie Annie Clark mit Erwartungshaltungen umgeht, erfuhr eclipsed in London.

Es kann so einfach sein, sich dem Druck zu stellen: „Du machst einfach ein besseres Album als beim letzten Mal. Und als ich mit diesem anfing, dachte ich nicht an die Erwartungen anderer. Aber ich habe mehr Zeit investiert, um sicherzustellen, dass die Songs hieb- und stichfest sind. Das erreicht man, indem man seine ganze Energie in die Kunst steckt.“ Damit hat Annie Clark die letzten zwei Jahre verbracht. Sie verschanzte sich in ihrem Studio und führte ein asketisches Dasein voller Arbeit und noch mehr Arbeit. Zurückgezogen und mit einer langen Liste an Themen, die ihr auf den schwarz lackierten Nägeln brannten.

Diese Themen hat sie mit viel Zynismus abgearbeitet. Da setzt es etwa Kritik am amerikanischen Gesundheitssystem, das Tabletten gegen alles verschreibt; an Hollywoods Jugend- und Schönheitswahn oder an der Promikultur. Dinge, die genauso irre seien, wie der aktuelle US-Präsident, nur dass sich niemand darüber aufrege. „Es ist eine Peter-Pan-Welt. Und eine Fortsetzung des Phänomens aus den Achtzigern, das mit Wall Street und Kokain zu tun hat, nämlich sich selbst zu perfektionieren. Und zwar durch Konsum und mit dem Gedanken, das das eine wertvolle und edle Sache sei. Als täte man etwas fürs Gemeinwohl, wenn man sich um sich selbst kümmert. Die Leute reden über grüne Smoothies, als würden sie Krebs heilen. Das ist eine Form von Narzissmus.“

Lest mehr im eclipsed Nr. 195 (11-2017).