GENESIS - 40 Jahre „A Trick Of The Tail“

17. Februar 2016

Genesis

Die Geschichte von „Tail“ beginnt spätestens am 25. November 1974 im Hotel Swingos in Cleveland, Ohio. „Peter kam in mein Hotelzimmer und sagte: ‚Hör zu, ich kann das nicht mehr machen. Nach Ende der Tournee werde ich die Band verlassen‘“, erinnert sich Genesis’ damaliger Manager Tony Smith. Die Gruppe hatten in Chicago erst wenige Tage zuvor den zweiten Teil ihrer ausgedehnten US-Tour gestartet. In Großbritannien und auf dem europäischen Festland war sie längst etabliert. In den Staaten wartete sie hingegen noch auf den Durchbruch. Gerade einmal sechs Shows hatte sie bis dahin absolviert. Mehr als 90 Abende lagen bis zum Ende der Tournee am 22. Mai 1975 im französischen Besançon noch vor ihr, als Gabriel die Bombe platzen ließ. Die Gruppe einigte sich darauf, zunächst nichts nach außen dringen zu lassen. Die Angst, es könnten weniger Tickets verkauft werden, war als Grund wohl nur vorgeschoben. Insgeheim hofften wohl einige in der Band, Peter könnte seinen Entschluss ändern. So wird etwa Keyboarder Tony Banks in Daryl Easleas Buch „Das Leben und die Musik von Peter Gabriel“ mit den Worten zitiert: „Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht überrascht. Nach der Tour hatte ich eine lange Unterhaltung mit ihm und versuchte, ihn zum Bleiben zu überreden, weil ich dachte, dass wir darüber hinwegkommen würden.“ Und weiter: „Wenn er mehr Texte einbringen wollte, dann hätten wir das schon zugelassen, aber er hatte innerlich bereits abgeschlossen. Er hatte wahrscheinlich genug von den Streitereien und wollte seine Ruhe.“

Ego-Clashs

„The Lamb“, die Story über Rael, einen Immigranten aus Puerto Rico, der in New York City seine alte Persönlichkeit aufgibt, um ein neues Leben zu beginnen, war der Auslöser für Spannungen und Eifersüchteleien innerhalb der Band. Bis dahin waren Genesis ein demokratisches Gebilde gewesen, Entscheidungen wurden gemeinschaftlich und wenn nötig mehrheitlich getroffen. Mit „Lamb“ änderte sich das. Das war Peters Baby. Die Story und damit nahezu alle Lyrics stammten aus seiner Feder. Gabriel hatte sein Ding gegen alle Widerstände und Vorbehalte, auch bandintern, durchgezogen. Er hatte klare Vorstellungen, wie die Story umzusetzen war, und die Gruppe folgte ihm, wenn auch nicht immer mit voller Überzeugung. Am meisten knisterte es zwischen Gabriel und seinem Jugendfreund Tony Banks. Dieser sah seinen Einfluss und den der übrigen drei Musiker schwinden. Und das artikulierte er deutlich. In der 2014 erschienenen Genesis-Dokumentation „Sum Of The Parts“ sagt er: „Es wurde immer problematischer. Die Art, wie man uns wahrnahm, war im Wesentlichen auf der einen Seite Peter und auf der anderen die Band. Das war problematisch.“ Gabriel seinerseits verteidigt seinen damaligen Standpunkt so: „Wenn man eine eigene kleine Welt definieren will, muss man sie von einer Person gestalten lassen. Ein Roman wird ja auch nicht von einem Kollektiv geschrieben.“ In der Easlea-Biografie äußert er sich ausführlicher: „Ich glaubte, dass ich der Einzige wäre, der die Situationen und Charaktere würde verstehen können. Ich schrieb indirekt über viele meiner Gefühle, und deshalb wollte ich nicht, dass jemand darin herumpfuschte.“

Gabriels Dominanz war das eine. Hinzu kam, dass er während der Arbeit an „Lamb“ privat eine schwere Zeit durchmachte. Die Geburt seines ersten Kindes verlief problematisch. Die kleine Anna-Marie, die am 26. Juli 1974 zur Welt kam, musste wegen einer Infektion für längere Zeit in einen Brutkasten. Die Eltern durften ihre Tochter tagelang nicht sehen und befürchteten sogar, sie zu verlieren. Diese Situation belastete den Sänger sehr, weshalb er mit den Texten für „The Lamb“ ins Hintertreffen geriet und auch immer seltener bei der Band war, die sich für die Sessions in Südengland aufs Land zurückgezogen hatte. Bei seinen Kollegen stieß die Prioritätenverschiebung ihres Sängers aber auf wenig Toleranz oder gar Verständnis, was Gabriel zwei Jahre später zu der Textzeile „No one taught them etiquette“ inspirierte (in „Solsbury Hill“).

Die Stimmung war Ende 1974 also angespannt. Die Veröffentlichung von „Lamb“ hatte sich mehrmals verzögert; die Doppel-LP erschien letztlich am Tag des Tourneestarts. „Wenn du etwas auf gar keinen Fall tun darfst, dann ist es, am Tag der Veröffentlichung eines Konzeptdoppelalbums, das noch kein Mensch gehört hat, auf Tour zu gehen und es dann auch noch in voller Länge zu spielen“, so Bassist/Gitarrist Mike Rutherford in „Sum Of The Parts“. Doch genau das geschah. Und der Motor stotterte mächtig. Die Fans, die zu den Konzerten kamen, kannten die Songs mit Ausnahme der Zugabe nicht. Gabriel, dem die Band die Hauptschuld für die Verzögerung gab (er hatte noch im Studio bis zur letzten Minute an den Lyrics gearbeitet) ahnte, dass es schwer sein würde, seine Ideen künftig noch einmal so kompromisslos durchzusetzen – zumal das „Lamb“-Konzept gerade Tony Banks nicht überzeugte. So kam es zu seiner folgenschweren Entscheidung, und am 22. Mai 1975 stand er zum letzten Mal mit Genesis auf der Bühne. „Im letzten Konzert ging uns das allen sehr nahe. Es war ein bisschen so, wie wenn man über einen Sterbenden spricht“, erinnerte sich Schlagzeuger Phil Collins an den letzten Gig in Besançon. „Die Stimmung war sehr speziell, auch weil wir trotz allem nicht wirklich auf diese Situation vorbereitet waren.“

Für die Musiker war dies ein Schock. Recht schnell erkannten sie aber, welche Chance sich ihnen durch Gabriels Abschied bot. Dass Fans und Presse dachten, die meisten Songs stammten von Peter Gabriel, nervte die anderen schon länger. Nun war die Zeit gekommen, zu zeigen, welches Potenzial in ihnen steckte. Diese Erkenntnis weckte den Ehrgeiz aller, plötzlich herrschte so etwas wie Aufbruchstimmung. Weniger Konkurrenzdenken, mehr Zusammenhalt – alle rauften sich zusammen und ließen ihrer Kreativität freien Lauf. „Wir wussten, dass wir weitermachen würden“, so Collins. Die Frage war nur wie. Als die Presse Wind von Gabriels Aus bekam (der „Melody Maker“ spekulierte noch im August: ‚Gabriel out of Genesis?‘), hatte die Band bereits erstes neues Songmaterial gesammelt. Doch sie stand ohne Leadsänger da, weshalb Collins vorschlug, instrumental weiterzumachen. Von den anderen wurde diese Idee nach kurzer Diskussion aber als abwegig abgetan. Stattdessen machten sie sich alsbald auf die Suche nach einem Ersatz für Gabriel.

Lesen Sie mehr im eclipsed Nr. 178 (März 2016).