Horizontale Schieflage - HORIZONTAL ASCENSION spüren einer Fusion des 21. Jahrhunderts nach

16. März 2016

Horizontal Ascension

Das Bandprojekt Horizontal Ascension vereint Musiker der Bands Flaming Bess (eine der dienstältesten deutschen Prog-Rock-Bands) und Marquette (moderner melodischer Prog). Die Multiinstrumentalisten Achim Wierschem (auch bekannt unter dem Alias Mindmovie) und Markus Roth machen mit dem US-Sänger Mike Hartmann gemeinsame Sache. Herausgekommen ist ein ambitioniertes Album, das mit vielen Longtracks deutlich in die Zukunft progressiver Musik weist. Klassischer Prog, härterer Prog-Metal und jazzige Elemente werden zu einer Art Fusion des 21. Jahrhunderts verdichtet.

eclipsed: Du bist sehr vielseitig und in mehreren Projekten tätig. Kannst du eingangs erklären, wo du musikalisch herkommst?

Achim Wierschem: Mein Vater war Saxofonist und in seiner Band habe ich mit vierzehn Jahren meine ersten Bühnenerfahrungen sammeln dürfen. Die Helden meiner Kindheit waren Bands wie Genesis, Led Zeppelin, Gentle Giant und Pink Floyd, sprich: Ich war sowohl vom modernen harten Bluesrock als auch vom Progressive Rock sehr beeinflusst. Schon in meinen ersten Schülerbands haben wir eigene Songs komponiert, die man aus heutiger Sicht dem klassischen Old-School-Prog-Rock zuordnen würde. Das hat sich bis heute wie ein roter Faden bei mir durchgezogen.

eclipsed: Wie kam es zum Bandprojekt Horizontal Ascension?

Wierschem: Mike habe ich auf der Suche nach einem Sänger für mein zweites Mindmovie-Soloalbum „Happiness And Tears“ kennengelernt. Als ich ihn damals singen hörte, war ich regelrecht verliebt in seine Stimme. Das ist nun sieben Jahre her und inzwischen sind wir trotz der großen Entfernung zwischen Düsseldorf und Scottsdale, Arizona, sehr gute Freunde geworden. Auf Markus und sein großes Talent bin ich über das Internet und die Plattform „MyOwnMusic“ aufmerksam geworden. Ich hörte einige seiner Songs und war tief beeindruckt. Das führte zu einem Gastauftritt von Markus auf dem letzten Flaming-Bess-Album „Der gefallene Stern“ und hat uns beiden so viel Spaß gemacht, dass wir beschlossen haben, mehr miteinander zu arbeiten. Marquette war eine sehr intensive Zusammenarbeit und danach stand fest: Wir wollen ein gemeinsames Bandprojekt auf die Beine stellen – Horizontal Ascension.

eclipsed: Was bedeutet der Name „Horizontal Ascension“?

Wierschem: Der Name ist natürlich ein Oxymoron, mit schillernder Bedeutung. Da ist zum einen die schwebende Jungfrau auf unserem Album-Cover – oder auch das berühmte „horizontale Gewerbe“. Aber für mich hat der Name auch eine, sagen wir mal, „spirituelle Bedeutung“: Unsere Gesellschaft strebt fast überall nach einem möglichst schnellen Aufstieg, eine Karriere kann nicht steil und schnell genug verlaufen. Dabei bleibt zu oft vieles in menschlicher Hinsicht auf der Strecke: Wir sterben an einer schleichenden Atrophie des Herzens und der Seele. Wäre es nicht erstrebenswert, mit den Erfahrungen langsam und umfassend zu wachsen? Mikes Texte sind voll von solchen Ideen.

eclipsed: Erläutere kurz die grundlegende musikalische Idee. Euer Debütalbum vereint klassischen Prog, härteren Prog-Metal und jazzige Elemente. Siehst du diesen Stil-Mix als zukunftsweisend?

Wierschem: Musikalisch ist es uns besonders wichtig, alle unsere Erfahrungen in unsere Musik einzubringen, also eher Horizonte zu eröffnen als die vertikalen Höhen nur eines musikalischen Berges zu erklimmen. Wir leben nicht mehr in den Siebzigern oder Achtzigern, aber wir nehmen die Erfahrung aus dieser Zeit mit, ebenso die Erfahrung der letzten beiden Jahrzehnte. Daraus versuchen wir, unsere eigene musikalische Vision zu schaffen. Das Album hat eine immense musikalische Dichte, auf die wir alle drei sehr stolz sind. Bei aller Vielfalt soll es aber trotzdem ein Gefühl der Entwicklung geben, ein Ziel, das die Richtung der Reise vorgibt. Ob es zukunftsweisend ist, ist dabei relativ egal: Wichtig bleibt, dass die Musik spannend ist und wir unterwegs gemeinsam wachsen – die Hörer gerne eingeschlossen.

eclipsed: Was symbolisiert das Cover mit der im Wald schwebenden Frau?

Wierschem: Eigentlich müsstest du das Jef De Corte fragen. Er ist unser Designer und übrigens auch selbst ein toller Musiker. Aber ich denke, das Bild eröffnet – wie unser Name auch – einen breiten Assoziationsraum, zu dem jeder sein Eigenes beisteuern kann. Vielleicht ist es Dantes düsterer Wald, in dem wir uns alle irgendwo wiederfinden? Ein geheimnisvoller Ort der Kontemplation. Man weiß nicht, was in den Wäldern schlummert, welche Gefahren, welche Möglichkeiten – oder im eigenen Geist. Das ist vielleicht die Frau.

eclipsed: Wie hast du dir die instrumentale Arbeit mit Markus Roth geteilt? Ihr spielt ja beide auf dem Album Keys, Gitarre und Drums. Wer spielt wann was?

Wierschem: Das Album wurde von uns beiden komponiert, in einem frühen Stadium des Projekts haben wir jeweils begonnen, uns mit den Songideen des anderen auseinanderzusetzen, Teile einzufügen und die instrumentale Grundlage für Mikes Gesang zu legen. Markus ist dabei sicherlich schwerpunktmäßig eher der virtuos solierende Keyboarder, meine Stärke liegt mehr in der Leadgitarren-Arbeit. Die Drums haben wir einfach untereinander aufgeteilt.

eclipsed: Gerade die Gesangsharmonien sind sehr ausgearbeitet. Haken lassen grüßen. Ein Verdienst von Sänger Mike Hartmann?

Wierschem: Absolut. Mike ist für die gesamten Gesangs-Arrangements verantwortlich, ebenso für die Songtexte. Er hat als Muttersprachler eben auch einen großen Vorsprung im aktiven englischen Wortschatz.

eclipsed: Gleich mehrere Longtracks und viele jazzige Wendungen belegen den ambitionierten Charakter von Horizontal Ascension. Keine leichte Kost, wie kommt’s?

Wierschem: Wir alle lieben die musikalische Freiheit, nicht in einem 3-Minuten-Radiosong-Format arbeiten zu müssen, sondern uns Zeit zu nehmen, um Musik zu erschaffen, die auch nach mehrmaligem Hören immer noch neue Facetten bei den Hörern entwickelt. Markus‘ Background wurzelt dabei tief in der Jazzfusion, ich bin eher der gefühlvolle oder auch der harte Rocker. Alle unsere Einflüsse und Mikes Gesangsideen haben letztlich ganz natürlich und demokratisch zu diesem Album geführt. Es war auch für uns eine Herausforderung – aber so wächst man eben.

eclipsed: Zu jedem Song gibt es im Booklet einen kleinen Textvorspann, in dem stark auf die Ganzheitlichkeit des Lebens hingewiesen wird. Hat das Album Konzeptcharakter?

Wierschem: Es gibt keine zusammenhängende Geschichte auf dem Album, aber alle Songs setzen sich mit den Bedingungen, Problemen und Möglichkeiten des Lebens im 21. Jahrhundert auseinander: Der Hochleistungs-Hedonismus unserer Zeit, der selbstzerstörerische Raubbau, den wir im Namen der Wirtschaft an unserer Welt betreiben, das Grundrauschen medial verbreiteter Panik und die Machtlosigkeit, die man als kleines Individuum in der anonymen Masse angesichts dieser hochkomplexen Probleme fühlt. Und trotzdem ist da ein tiefer Optimismus, ein Glaube an etwas Gemeinsames, zutiefst Menschliches, das uns verbindet. Wir sind und bleiben Wesen der Möglichkeiten.

eclipsed: „Devious Moments“ verweist auch auf Gesellschaftskritik, dass wir von Geburt an quasi „victim of higher circumstances“, den Reichen und Mächtigen ausgeliefert sind. Kannst du das mal auf den Punkt bringen?

Wierschem: In den letzten 60 Jahren hat der Westen praktisch überall eine massive Umverteilung der Ressourcen und des Wohlstands von der Masse der Menschen auf einige wenige erlebt. Letztlich sind es weltweit vielleicht zehn bis zwanzig Familien und Superkonzerne, die fast die kompletten Ressourcen unseres Planeten kontrollieren, sei es das Erdöl, das Gesundheitswesen, die Banken, Nahrungsmittel – bis hin zur Patentierung der genetischen Blaupausen von Lebewesen. Man muss sich nur mal Filme wie „Inside Job“ oder „The Corporation“ ansehen, damit man alle Illusionen verliert. Um Beispiele zu nennen: Vor nicht mal zehn Jahren konnten ein paar wenige, allein auf ihren Profit gepolte Banken und skrupellose Manager in den USA hochgradig riskante Spekulationen mit den Geldern, Einlagen und Hypotheken ihrer Kunden betreiben und so die Weltwirtschaft an den Rand des Kollapses bringen. Von denen ist bis heute keiner strafrechtlich verfolgt worden. Die Banken wurden als „too big to fail“ mit großzügigen Rettungspaketen, die die einfachen Bürger trugen, aus dem Schlamassel gezogen, den sie selbst verursacht hatten. Heute sind sie größer als vor der Krise. In vielen Teilen unseres Planeten verhungern Menschen, in anderen werden Nahrungsmittel einfach weggeworfen. Griechenland, die Bankenkrise, Syrien, die Flüchtlingskrise – es gibt unendlich viele Beispiele. Bist du auf der Sonnenseite geboren, brauchst du dir keine Sorgen zu machen, für alle anderen kann das Leben allerdings komplett anders aussehen. Insofern sind wir alle Opfer oder Günstlinge von Umständen, zu denen wir persönlich positiv wie negativ nichts beigetragen haben. Wir haben dieses zutiefst korrupte System selbst gebaut und jetzt frisst es uns langsam bei lebendigem Leibe. Wir können diesen Kampf gewinnen, aber um das zu tun, müssen wir das Bewusstsein für solche Probleme und Fragen schärfen – und gemeinsam handeln.

eclipsed: Wird es Horizontal Ascension auch live geben?

Wierschem: Das wäre ein Traum, hängt aber im Moment noch sehr stark vom Erfolg des Albums ab. Wir finanzieren alles selbst, eine Tour ist ein ziemlicher Kostenfaktor und für eine immer noch unbekannte Band ein großes Risiko, zumal wir Mike ja auch aus den USA einfliegen müssten.

eclipsed: Wie geht es damit weiter – schon Ideen für ein zweites Album?

Wierschem: Ein zweites Album ist geplant, Ideen gibt es bereits heute für mindestens vier bis fünf weitere Alben. Markus und ich schreiben fast täglich neue Songs.

eclipsed: Obwohl du ja eine Art Multiinstrumentalist bist, ist die Gitarre wohl bis heute dein Lieblingsinstrument geblieben – was fasziniert dich gerade daran?

Wierschem: Ich bin leider nicht mit einer schönen Gesangsstimme gesegnet. Wenn ich Gitarre spiele, versuche ich allerdings immer, wie ein Sänger zu denken, sprich: Für mich ist die Melodie und deren Phrasierung stets ein entscheidender Faktor. Für mich gibt es außer der Gitarre und vielleicht noch dem Saxofon kein weiteres Instrument, mit dem man Gefühle und Phrasierung so natürlich und vielfältig ausdrücken kann.

eclipsed: Du bist ja, wie gesagt, in mehreren Projekten und auch als Produzent und Toningenieur mit deinen hauseigenen Multimedia Studios am Start. Wie gehst du an die hauptsächlichen Projekte Mindmovie, Flaming Bess, Marquette und nun auch Horizontal Ascension heran? Was unterscheidet sie, wie unterscheiden sich deine Herangehensweise und dein Arbeitsstil?

Wierschem: Meine Arbeitsweise ist eigentlich nicht wirklich unterschiedlich. Ich versuche, in jedes der Projekte in der Entstehungsphase so viel Herzblut einfließen zu lassen, wie ich nur kann, um das bestmögliche Album abzuliefern. Die großen Unterschiede liegen eher in der Auswahl der musikalischen Themen und der Kompositionen, die sich dann doch stark unterscheiden. Das habe ich wohl ein wenig mit Steven Wilson gemeinsam. Flaming Bess ist die eher lyrisch-romantische Seite des Prog-Rock, Marquette und Horizontal Ascension sind deutlich härter und virtuoser – alleine schon durch Markus Roth. Mindmovie ist eher frei – mit meiner Gitarre als hauptsächlichem Bindeglied in einem sehr eklektischen musikalischen Kosmos.

eclipsed: Gerade für 2016 ist viel angekündigt: ein drittes Soloalbum mit Mindmovie, ein weiteres mit Marquette und eine Tour mit Flaming Bess. Erzähl mal etwas über diese Projekte und wie du das alles unter einen Hut bringst.

Wierschem: Ich kann mich, Gott sei Dank, heute nur noch auf die Musik konzentrieren. Es ist für mich eher eine große Entspannung als eine Belastung, im Studio oder im Proberaum zu sein und spielen zu können. Ich habe sehr viel Freude an allen diesen Projekten, und wenn man Spaß hat an dem, was man tut, ist es relativ einfach, viele Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten.

eclipsed: Wie bist du 1981 eigentlich zu Flaming Bess gekommen?

Wierschem: Ich habe Hans Wende, den Bandchef, bei einem Konzert in Düsseldorf (Saga & Styx) zufällig getroffen. Wir kamen ins Gespräch, das zweite Album stand für Flaming Bess an und Hans bat mich, ein paar Demos dafür aufzunehmen. Zwei Monate später befand ich mich mit der Band im Dierks-Studio und es entstand das zweite Flaming-Bess-Album „Verlorene Welt“. Seitdem bin ich dabei.  

eclipsed: Hast du abschließend für unsere Leser eine schöne, witzige oder skurrile Anekdote aus deinem reichhaltigen Musiker-Leben?

Wierschem: Da fällt mir mein erster Auftritt mit meiner Schülerband ein – der endete in einem Debakel. Wir spielten in einem Jugendheim und plötzlich stand eine Bande „Hells Angels“ vor uns und zwang uns „Born To Be Wild“ von Steppenwolf zu spielen – und zwar für mehr als zwei Stunden lang, immer dasselbe Stück! Dafür ließen sie im Gegenzug unsere Instrumente heil …

Interview: Walter Sehrer

Top 5 Alben
Genesis – Foxtrot
Toto – Tambu
Steven Wilson – Hand.Cannot.Erase.
It Bites – Once Around The World
Pink Floyd – Wish You Were Here

Buch-Empfehlung
Ich bin, typisch Prog-Rocker, ein alter SciFi- und Fantasy-Fan. Mein Lieblingswerk ist Philip José Farmers „Die Welt der tausend Ebenen“-Zyklus. Ein alter Englischprofessor besichtigt mit seiner Frau ein Haus, das sie kaufen wollen. Er befindet sich im Keller, als eine seltsame Klangfolge ertönt, sich eine Öffnung in der Wand auftut und ein junger Mann ihm von der anderen Seite ein Horn zuwirft. Das unfassbare Erlebnis lässt ihm keine Ruhe und mit dem Horn gelangt er schließlich auch in einen paradiesischen Garten, der nur die erste Ebene einer gewaltigen künstlichen Fantasy-Welt darstellt, über die ein ominöser Lord quasi göttergleich herrscht und sie nach seinen Wünschen immer neu formt. Noch dazu entdeckt er, dass er selbst immer jünger wird. Das Werk ist ein einziges Abenteuer, spannend von der ersten bis zur letzten Seite – und dank der interessanten Charaktere und immer neuen „Ebenen“ oder künstlichen Welten ist es sehr, sehr abwechslungsreich ...
Für mich wäre dessen Verfilmung besser als „Herr der Ringe“.