1969 DIE ZEITENWENDE: Geplatzte Träume, neue Visionen

14. Mai 2019

1969 Hippies Woodstock

1969 DIE ZEITENWENDE: Geplatzte Träume, neue Visionen

Das alles dominierende Thema des Jahres ist, trotz des frischen Windes, der mit der Wahl des Sozialdemokraten Willy Brandt zum Bundeskanzler durch die Bundesrepublik Deutschland weht, und trotz bedrückender Nachrichten aus Vietnam und Irland, die Landung der „Apollo 11“-Besatzung auf dem Mond. Auf der Erde platzen die Sehnsüchte der Hippies spätestens in Altamont, der Rock als „Way Of Life“ hat seine Unschuld verloren. Andererseits startet die Rockmusik erst richtig durch, es sprießen die Krauts, Jazzer entdecken den Rock, King Crimson den Prog, der Zeppelin kreist - neue Visionen für die Siebziger.

Ein sichtlich schockierter Mick Jagger saß im Frühjahr 1970 im Schneideraum vor einem kleinen Monitor, rang sichtlich um Worte und stieß schließlich den einen Satz hervor: „Es war schrecklich!“ Anlass war die Arbeit am Film „Gimme Shelter“, der die US-Tour der Rolling Stones vom November/Dezember 1969 dokumentiert. Mittendrin die Szene, die Jagger so erschütterte: Beim „Altamont Speedway Free Festival“, das am 6. Dezember zum Abschluss der Tournee vor rund 300.000 Fans eine Art Gegenstück zu Woodstock vier Monate zuvor sein sollte, wurde ein schwarzer Konzertbesucher, der 18-jährige Meredith Hunter, vor der Bühne von den als Ordnern eingesetzten Hells Angels erstochen. Zwei Fans starben nach Autounfällen (mit Fahrerflucht), ein anderer ertrank im LSD-Rausch in einem Entwässerungsgraben.
Da war plötzlich nichts mehr übrig von dem Freiheitsgefühl, vom Ausstieg aus der Welt der Erwachsenen, von Liebe und Frieden, das die kanadische Band Steppenwolf um den deutschen Sänger Joachim Fritz Krauledat alias John Kay in „Born To Be Wild“ besungen hatte. Das Stück, 1968 erstmals als Single und dann auf der Debüt-LP der Gruppe veröffentlicht, gehört zum Soundtrack von „Easy Rider“. Der Film war 1969 der offizielle Beitrag der USA in Cannes und ließ – wie das Geschehen in Altamont – resignierte und desillusionierte Betrachter zurück: Die Protagonisten Billy (Dennis Hopper) und Wyatt (Peter Fonda) werden während einer Motorradtour von New Orleans nach Los Angeles von Spießbürgern aus purem Hass auf langhaarige Aussteiger getötet. Die Musik zum Film ist – auch wenn Bob Dylan und The Band aus rechtlichen Gründen nicht vertreten sind – ein musikhistorisches Dokument: The Jimi Hendrix Experience, die Byrds, Electric Prunes und Steppenwolf – deren Antidrogensong „The Pusher“ läuft gleich zu Beginn – liefern die passende Untermalung der Geschichte, die so optimistisch beginnt und doch tragisch endet.

Wie Altamont! Die Stones hatten die Idee für dieses „Woodstock West“, das von Jefferson Airplane und Grateful Dead angeregt worden war, gerne aufgenommen. Ihre am 7. November mit einem Aufwärmkonzert gestartete US-Tour, die erste seit 1966, gilt Kritikern zwar als die „erste mythische Rock’n’Roll-Tour der Geschichte“ (Robert Christgau) und als „richtungsweisend für eine ganze Ära“ (Dave Marsh), doch warfen Medienvertreter und Fans der Band gleichzeitig die hohen Eintrittspreise vor. Da kam den Stones der Vorschlag zu einem Gratisfestival gerade recht. Dass Altamont quasi das Requiem für die Beerdigung aller Hippieträume liefern und einen Schlussstrich unter die sozialen Utopien und alternativen Lebensmodelle der US-Jugend ziehen würde, ahnte niemand.

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