ARCHIVE - Kollektives Tagebuch und prophetisches Statement  

12. April 2022

Archive

ARCHIVE - Kollektives Tagebuch und prophetisches Statement  

2019 machte die britische Band Archive ein Vierteljahrhundert Bandgeschichte zum Konzept der Compilation „25“. Nun veröffentlicht sie mit „Call To Arms & Angels“ ein Konzeptalbum, das den gesamten Werdegang der Band widerspiegelt. Musik ist heute vor allem ein Wirtschaftsfaktor. Die Tage, in denen Rock per se zur Gegenkultur gehörte, liegen lange zurück. Algorithmusgesteuerte Portale wie Spotify sind eine weitere Stufe auf dem Weg der Entwicklung von Musik zu einem harmlosen Konsumgut. In Zeiten von Pandemie und Krieg mitten in Europa wird uns der Verlust, den wir durch die Beschränkung ihres politischen Anspruchs und Wirkungsgrads erlitten haben, umso schmerzhafter bewusst. Doch jede Entwicklung ruft eine Reaktion auf den Plan.

Ein Album in Echtzeit

Die britische Band Archive ist sozialen und politischen Inhalten noch nie ausgewichen. Zu keinem Zeitpunkt hat sie den gesellschaftlichen Status quo aber derart scharf umrissen wie auf „Call To Arms & Angels“. Die monumentale Dreifach-LP bzw. Doppel-CD ist ein Statement zu Ereignissen wie Lockdown, Brexit, dem Sturm auf das Kapitol und „Black Lives Matter“ und mutet zugleich geradezu verstörend prophetisch an. Im Moment, in dem das Album erscheint, ist die Welt durch den politischen und militärischen Gang der Dinge in Osteuropa bereits eine komplett andere geworden, als sie es zum Zeitpunkt der Einspielung war. Doch schon das Coverbild, das wie ein Schnappschuss von Relikten einer untergegangenen Stadt oder Kultur wirkt, kann den Eindruck vermitteln, Archive hätten vorausgesehen, was da auf uns alle zukommen würde. 

„Call To Arms & Angels“ ist schön und erhaben und doch eine Mahnung an uns alle. „Der Song ‚Fear There & Everywhere‘ gab uns die Richtung vor“, erinnert sich Archive-Mitgründer Darius Keeler. „Dave Pen hatte die Idee zu diesem Titel. Wir hatten ihn schon lange im Gepäck. Er bezieht sich auf den Beatles-Song ‚Here, There And Everywhere‘. Uns fehlte nur der passende Kontext für den Song. Dann brach aber plötzlich alles über uns herein. Die Pandemie brachte so viel Angst und Befremden mit sich. Auf einmal trug uns der Song in diese prophetische Welt. Das Album geschah in Echtzeit, die Songs entstanden mit den Ereignissen. Wir waren im Studio, und jeden Tag passierte etwas Neues, das uns einerseits schockierte und andererseits zu neuen Songs inspirierte. Was können wir als Band tun? Das Album ist ein Tagebuch der Geschehnisse. Mittlerweile passieren immer mehr Dinge, die wir nicht voraussehen konnten, die aber sehr relevant für das Album sind. Wenn ich die Songs heute höre, finde ich sie erschreckend prophetisch.“

Archive ist nicht nur eine englische Band, ihre Mitglieder kommen aus verschiedenen Ländern. Sänger Pollard Berrier stammt zum Beispiel aus den USA, und die auf „Call To Arms & Angels“ sehr prominent vertretene Sängerin Holly Martin lebt in Australien. Angesichts der großen räumlichen Entfernung war ihr Blick auf die Entwicklungen in Europa ein etwas anderer: „Für mich war es beängstigend, all diese Dinge zu sehen, denn sie zeigen uns die Zukunft in unserem eigenen Land. Australien liegt mit allem hinter dem Rest der Welt zurück, sei es das Virus, die Impfung und vieles mehr. Umso bizarrer war es für uns, über Monate vom Rest der Welt abgeschlossen zu werden. Wenn irgendjemand uns Anfang 2020 erzählt hätte, was in den folgenden zwei Jahren passieren würde, hätten wir ihm einen Vogel gezeigt. Auf dem Album gibt es viele Dinge, zu denen jeder Mensch Übereinstimmungen feststellen kann, denn alles basiert auf der Wirklichkeit. Es sind Erfahrungen, die wir und unsere Fans gemacht haben.“

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