Das Progjahr 1971 - Ein Genre startet durch

7. November 2021

Prog Progressive Rock

Das Progjahr 1971 - Ein Genre startet durch

1971 markiert eine Zäsur in der Geschichte der progressiven Rockmusik: In diesem Jahr fanden viele der Bands, die heute zu den wesentlichen Begründern dieser Musikrichtung gezählt werden, zu ihrer musikalischen Vision. Zu Beginn eines Jahrzehnts, in dem der Progressive Rock eine herausragende Rolle spielen sollte, erschienen zahlreiche Alben, die heute nicht nur als Klassiker des Genres gelten, sondern auch den Grundstein für die Karrieren einiger seiner zentralen Protagonisten legten – seien es „The Yes Album“, „Fragile“, „Aqualung“ oder „Pictures At An Exhibition“.

An dieser Stelle werfen wir einen ausführlichen Blick auf dieses für die Entwicklung des Prog so bedeutende Jahr und seine berühmten wie weniger bekannten Protagonisten, von Europa bis Südamerika. Besonders unter die Lupe nehmen wird dabei das dritte Genesis-Werk „Nursery Cryme“ sowie das vierte King-Crimson-Album „Islands“. Aktuelle Statements von Steve Hackett, Steve Howe und Peter Hammill runden die Zeitreise ab.

Ende der 1960er-Jahre wurde die Rockmusik zunehmend komplexer und entwickelte sich im Zuge der 68er-Bewegung parallel zu ihrer steigenden soziokulturellen Bedeutung verstärkt zu einer respektierten Kunstform. Progressiv denkende Musiker wurden sich immer mehr der Möglichkeiten bewusst, die ihnen der Rock zu bieten hatte. Insofern ist die mitunter vertretene Ansicht, „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ der Beatles sei das erste Prog-Album gewesen, gar nicht so weit hergeholt – waren es doch vor allem die Fab Four, die Einflüsse der Klassik und der Avantgarde-Bewegungen zunehmend in ihre Musik einfließen ließen.

Dazu kam die Idee eines Albums als alleinstehendes Kunstwerk – und zwar einerseits im Gegensatz zur Single, die nur der Vermarktung eines Songs (und als Bonus einer B-Seite) diente, andererseits als autonomes künstlerisches Statement, das wie ein Buch oder ein Film rezipiert werden sollte. Das immer wieder zu Unrecht kritisierte Konzeptalbum stand demnach weniger für den oft als Mangel angeführten Wunsch, eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen, als vielmehr für das Verlangen nach konzeptioneller Einheitlichkeit – und genau dieses Kriterium erfüllten so ziemlich alle Klassiker des Progressive Rock.

Die Ausgangslage

Zu Beginn der 1970er-Jahre begannen zahlreiche Bands, die musikalisch durchaus unterschiedlich sozialisiert waren, eine eigene progressive Identität herauszubilden. Interessanterweise lagen die Anfänge der wenigsten von ihnen in einer Musik, die man heute als Prog bezeichnen würde: Genesis spielten auf ihrem halbgaren Debüt 1969 (ähnlich wie Pink Floyd oder auch David Bowie, der aber in eine andere Richtung gehen sollte) folkloristische, psychedelisch angehauchte Popsongs, Van der Graaf Generator schlugen in eine ähnliche Kerbe. Das Yes-Debüt 1969 war schon etwas symphonischer und im Geiste der Moody Blues gehalten, aber auch diese Band befand sich noch in der Findungsphase.

Ganz anders Jethro Tull, die nach zwei Bluesrockalben auf „Benefit“ 1970 etwas dunklere Töne anschlugen, die einiges von dem vorwegnahmen, was auf ihrem Meisterwerk „Aqualung“ 1971 folgen sollte. Auch Gentle Giant veröffentlichten 1970 ihr erstes Album, das seinerseits bluesbeeinflusst war und noch viel erdiger klang als die Prog-Achterbahnfahrten, durch die sich spätere Werke auszeichnen sollten. Kurz gesagt: Prog kam Anfang des Jahrzehnts nicht aus dem Nichts, sondern hatte sich langsam aus einer Vielzahl populärer Spielarten heraus entwickelt. Man kann allerdings durchaus feststellen, dass – auch wenn bereits in den beiden Jahren davor einige wichtige Alben des neuen Genres veröffentlicht worden waren – er erst 1971 seinen Durchbruch erlebte.

Bemerkenswerterweise beruhten die zunehmende Wertschätzung der progressiven Rockmusik und ihre rasche internationale Verbreitung auch auf ihrem großen kommerziellen Erfolg. Die progressiven Gesellschaftsbilder, die mit der 68er-Revolte einhergingen, hielten auch Einzug in die Künste – in den Film etwa mit New Hollywood oder dem deutschen Autorenkino, in die Literatur mit den US-amerikanischen Underground-Schriftstellern wie auch den deutschen Pop-Literaten. Auch die hohe Literarizität der Texte wie auch die bahnbrechende Coverkunst, die die großen Werke des Prog zumeist auszeichneten, waren nicht zuletzt Ausdruck dieses progressiven Kunstanspruchs. Doch das aus heutiger Sicht eigentlich Erstaunliche ist: Die Menschen begannen, sich für diese Musik zu begeistern. 

Der Durchbruch

Plötzlich begrüßte ein Mainstreampublikum Popmusik, die anspruchsvoll, intelligent und teilweise extrem fordernd war, und zwar nicht nur musikalisch, sondern auch lyrisch und im Hinblick auf die künstlerische Gesamtgestaltung – man denke nur an die theatralischen Bühnenshows von Genesis. So fanden sich die Alben von Emerson, Lake & Palmer, Yes, Jethro Tull oder Atomic Rooster plötzlich am oberen Ende der britischen Charts wieder, während die extrem sperrigen Van der Graaf Generator mit „Pawn Hearts“ plötzlich die Liste der meistverkauften Alben in Italien anführten. Viele Kritiker dagegen übten sich zu diesem Zeitpunkt gegenüber den progressiven Werken noch in Zurückhaltung, weil sie nach wie vor dem Ideal einer unmittelbaren, auf Bluesschemata basierenden Rockmusik anhingen, wie auch Steve Hackett rückblickend feststellt: „Die Berichterstattung über Genesis im Jahr 1971 war meist sehr kritisch. Ich denke, die Journalisten wollten den Rock’n’Roll damals sehr im Blues verwurzelt sehen...“

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