DIE WILDE JAGD - Auf der Grenze zwischen Physis und Seele

DIE WILDE JAGD - Auf der Grenze zwischen Physis und Seele

1872 hat Peter Nicolai Arbo sein Bild „Die Wilde Jagd“ gemalt, das mit dramatischen Licht-Schatten-Kontrasten eine Szene der nordisch-germanischen Mythologie zeigt. Sebastian Lee Philipp, Produzent und Songschreiber aus Berlin, hat dieses Bild so beeindruckt, dass er sein musikalisches Projekt danach benannte. Das war etwa 2015. Nach dem unbetitelten Debüt, bei dem Die Wilde Jagd noch aus dem Duo Sebastian Lee Philipp und dem Düsseldorfer Produzenten Ralf Beck bestand, folgte 2018 „Uhrwald Orange“ (bei dem Beck nur noch als Co-Produzent tätig war). „Haut“, das neue, dritte Werk von Die Wilde Jagd, ist so kontrastreich wie Arbos Bild: Elektronik, Mittelalterklänge, Krautrock, Avantgarde – all das kommt hier in vier Longtracks zusammen, in einem magischen Dreieck aus subtilen Melodien, hypnotischen Rhythmen und undefinierbaren Klängen. eclipsed sprach mit Sebastian Lee Philipp.

eclipsed: Das neue Album „Haut“ erscheint mir etwas ruhiger, von der Stimmung her nachdenklicher zu sein als seine Vorgänger. Stimmst Du dem zu? Wie kam es dazu? 

Sebastian Lee Philipp: Ich gehe bei Albumproduktionen sehr intuitiv vor und kann meistens gar nicht einschätzen, wie die Musik auf andere wirkt. Das neue Album wurde vor allem von zwei Einflüssen geprägt: dem Tod eines von mir sehr geliebten Hundes und von Bildern und Erinnerungen aus sehr besonderen Wahrnehmungen, die ich in den letzten zwei Jahren erleben durfte. 

eclipsed: „Uhrwald Orange“ wurde nach Ralf Becks Studio benannt, in dem du das zweite Album aufgenommen hast. Woher nun der neue Albumtitel „Haut“?

Philipp: Haut repräsentiert für mich die Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren, der Physis und dem, was man vielleicht als Seele bezeichnen könnte. Mit dem Album habe ich versucht, eine Wanderung dieser Seele zu schildern. Im Französischen bedeutet das Wort zudem „hoch“ - ein schöner Zufall. 

eclipsed: Deine Musik ist schwer zu definieren. Ich verwende dafür den Begriff „Neokrautrock“. Siehst du dich beeinflusst vom 60/70er Krautrock und/oder vom späteren deutschen Underground der 80er/90er Jahre. Wo liegt überhaupt deine „musikalische Sozialisation“?

Philipp: Ich bin Jahrgang 1982. Als Kind hörte ich, wie wohl jedes Kind, zeitgenössische Popmusik. Ein paar meiner ersten Maxi-CDs mit ungefähr zehn Jahren waren zum Beispiel „If I Ever Lose My Faith In You“ von Sting oder „Man On The Moon“ von R.E.M. Außerdem war ich großer Guns N Roses-Fan. Im Auto hörten meine Eltern Rod Stewart, Joe Cocker, aber auch NDW-Bands wie die Erste Allgemeine Verunsicherung. Meine Großeltern väterlicherseits wohnten in Berchtesgaden, direkt am Watzmann. Die besuchten wir oft zu Weihnachten und ich erinnere mich gut an lange Autofahrten dorthin, bei denen wir das Hörspiel „Der Watzmann ruft“ von Wolfgang Ambros, Manfred Tauchen und Joesi Prokopetz hörten. Später machte mich mein Vater unter anderem mit Pink Floyd vertraut. Von „The Wall“ war ich zeitweise wie besessen. Mit sechzehn entdeckte ich das Album „Ende Neu“ von den Einstürzenden Neubauten und arbeitete mich von da aus rückwärts durch alles, was mit Post Punk, Industrial, EBM, Gothic, Synthpop, New Wave und Ähnlichem zu tun hatte. Diese Einflüsse habe ich dann auch mit meiner ersten Band Noblesse Oblige, gemeinsam mit Valerie Renay, verarbeitet. Eine große Leidenschaft habe ich außerdem für mittelalterliche Kirchenmusik wie das Libre Vermell de Montserrat und georgische Volksmusik. In den letzten Jahren interessierte ich mich vor allem für Musik von Freunden und Bekannten, bei denen ich den Entstehungsprozess ein wenig mitverfolgen konnte. Dadurch entsteht bei mir oft ein noch stärkerer Bezug zur Musik. Und natürlich versuche ich, immer wieder Neues und Altes zu entdecken. Zurzeit läuft bei mir zum Beispiel: Catarina Barbieri, Robert Wyatt, Carter Tutti, das neue Philip Glass-Album mit dem Third Wave Percussion Ensemble, Land Of Light, Bohren & der Club Of Gore und Colin Stetson. Und ich befasse mich grad auch ein wenig mit Miles Davis, weil ich den Film „The Birth Of Cool“ sehe. Ich schaue sehr viele Filme über längere Zeiträume in 15 Minuten-Takten vor dem Einschlafen. Krautrock mag ich auch. Ich liebe Michael Rothers Gefühl für Melodien und Romantik und Jaki Liebezeits Gespür für die Wichtigkeit der Wiederholung und der Zurückhaltung in seinem Schlagzeug-Stil. Und natürlich mag ich auch den Studio-Klang der klassischen Krautrock-Produktionen. 

eclipsed: Die Wilde Jagd ist einerseits hochgradig rhythmisch, andererseits auch sehr melodisch. Das alles mit vielen seltsamen Klängen durchsetzt. Wo liegt der Schwerpunkt in diesem Dreieck aus Rhythmus, Melodie und Klang?

Philipp: Da gibt es eigentlich keine Schwerpunkte für mich, sie sind mir alle gleich wichtig. Und meistens entsteht der Kern aller Stücke sehr schnell aus einer Kombination dieser Elemente. „Himmelfahrten“ habe ich zum Beispiel größtenteils auf einer Akustikgitarre geschrieben und dann klassisch aufgenommen und produziert. Bei „Empfang“ habe ich chronologisch gearbeitet, also nicht mit einer Hauptidee angefangen, sondern das Stück von den ersten Klängen an nach und nach intuitiv weiterentwickelt. Bei „Gondel“ habe ich am wenigsten gemacht, das ist mir auch immer am liebsten. Je weniger ich das Gefühl habe, dass etwas passieren muss, desto besser. Nachdem ich das Grundgerüst mit ein paar dynamischen Entwicklungen entworfen hatte, entfaltete sich das Stück mehr oder weniger von selbst und ich brauchte nur noch meinen Schlagzeuger Ran Levari dazu zu holen, um die Perkussion einzuspielen. Bei „Sankt Damin“ wiederum wollte ich eine sehr persönliche Empfindung beschreiben, die vor allem vom Text und der gesanglichen Präsentation abhängig war. Die Herangehensweisen sind also verschieden. Aber der Ort, aus dem die Stücke entstehen, ist derselbe und das muss ein Ort der Bedeutung, Ehrlichkeit und Transzendenz sein, für etwas anderes interessiere ich mich mittlerweile nicht mehr, zumindest was meine eigenen Produktionen angeht. 

eclipsed: Deine Texte sind auf Deutsch. Dennoch erschließen sie sich nicht eindeutig. Ist es absurder Humor? Philosophie? Psychologie? Naturalismus? Kunst? Mythologie? Von allem etwas?

Philipp: In meinen Texten bringe ich meine Gedanken, Fantasien und Erinnerungen zu Wort. Aber ich möchte ungern tiefer auf ihre Bedeutung eingehen oder versuchen, sie zu erklären. Denn viel mehr freut es mich, wenn Leute ihre eigenen Interpretationen daraus mitnehmen und mit dem Album ihre ganz eigenen Geschichten und inneren Reisen kreieren können. 

eclipsed: Du hast jetzt eine Gastsängerin dabei. Wie kam es dazu?

Philipp: Das ist die Nina Siegler, eine gute Freundin von mir. Kurz bevor sie 2019 nach Neuseeland zog, wollte ich unbedingt noch schnell ihre Stimme aufnehmen. Für bestimmte Zeilen hatte ich nämlich von Anfang an eine andere Stimme als meine eigene im Sinn und ich bat sie, diese Passagen einzusingen. Als sie das dann tat, kam es mir vor, als wenn die Texte nur für ihre Stimme bestimmt waren, ein wirklich magischer Moment. 

eclipsed: Beim ersten Album war Die Wilde Jagd noch ein Duo bestehend aus Dir und Ralf Beck. Danach war Ralf Beck „nur noch“ für die Produktion und die Abmischung dabei. Warum diese Trennung (oder besser: neue Aufgabenverteilung)? Wie läuft jetzt die Zusammenarbeit? Würdest Du Die Wilde Jagd jetzt als Soloprojekt bezeichnen?

Philipp: Ralf und ich gründeten 2006 ein Projekt namens Der Räuber und der Prinz. Das war für uns jahrelang ein Seitenprojekt neben unseren anderen musikalischen und nicht-musikalischen Tätigkeiten. Wir trafen uns ein- bis zweimal im Jahr und nahmen in einem Zeitraum von circa fünf Jahren vier Stücke auf, die auch allesamt veröffentlicht wurden. Nach einer mehrjährigen Pause wollte ich 2014 das Projekt wiederbeleben, mit der Absicht, ein komplettes Album fertigzustellen und aus Der Räuber und der Prinz ein „Hauptprojekt“ zu machen. Zu diesem Zeitpunkt stellte sich aber auch raus, dass unsere Zusammenarbeit aus praktischen und zeittechnischen Gründen nicht so einfach war – Ralf hatte mittlerweile eine Familie gegründet, außerdem wohnten wir in verschiedenen Städten - Ralf in Düsseldorf und ich in Berlin. Uns wurde klar, dass das Projekt nun ein anderes werden würde, und wir entschieden uns für die Namensänderung in Die Wilde Jagt, auch wenn das erste Album noch Aufnahmen aus Der-Räuber-Und-Der-Prinz-Zeiten enthält, darunter die bereits veröffentlichten Stücke „Jagd auf den Hirsch“, „Der Elektrische Reiter“,  „Torpedovogel“ und „Durch dunkle Tannen“ (zuvor als „Moogwalzer“ veröffentlicht). Die Präsentation des Projekts als zweiköpfige Band war mir zu diesem Zeitpunkt noch sehr wichtig, da wir die meisten Stücke gemeinsam geschrieben und aufgenommen hatten. Da es Ralf nicht möglich war, bei Live-Auftritten mit von der Partie zu sein, gründete ich eine Live-Konstellation, die aus mir selbst und dem mit mir befreundeten Schlagzeuger Nico Rommel bestand. Das Projekt Die Wilde Jagd wurde nun mehr und mehr zur Hauptbeschäftigung in meinem Leben. Ich fing an, auf eigene Faust neue Ideen und Stücke zu entwickeln und verpflichtete mich dazu, meine ganze Zeit und Energie in ein Nachfolgealbum zu stecken. Ralf unterstützte mich in diesem Vorhaben, indem er mir die Schlüssel zu seinem Uhrwald Orange Studio überreichte, wo ich ab 2016 am zweiten Album arbeiten konnte. Ich verbrachte dort viele Wochen und Monate, in denen er auch sehr oft zu mir kam, um in entscheidenden Momenten weiterzuhelfen, mich nach und nach mit der Bedienung seines Studios vertraut zu machen, und Stücke gemeinsam mit mir fertig zu produzieren. Begründet in der Tatsache, dass ich nun die „treibende Kraft“ im Projekt war, und auch die Live-Umsetzung alleine - beziehungsweise zu diesem Zeitpunkt mit dem neuen Schlagzeuger Ran Levari - übernahm, wurde das Projekt mit dem zweiten Album entsprechend umgestaltet, was zum Beispiel die visuelle Repräsentation auf Fotos und dergleichen angeht. Das neue Album „Haut“ habe ich dann so gut wie komplett in meinem Studio in Berlin aufgenommen. Ralf lieh mir hierfür ein tolles Mischpult und weitere Geräte, mit denen ich hochwertige Aufnahmen, ähnlich wie in seinem Studio in Hilden, an meinem Wohnort Berlin machen konnte. Außerdem hat er, wie beim Vorgängeralbum, dann mit mir die finale Fertigstellung und Abmischung der Platte im Uhrwald Orange Studio gemacht. Mittlerweile würde ich das Projekt also, was das Schreiben und Aufführen der Musik angeht, als Solo-Projekt bezeichnen - wenn auch immer in enger Zusammenarbeit mit Ralf – auf dessen Rat, Hilfe und Studio „Uhrwald Orange“ ich immer zurückgreife. 

eclipsed: Siehst Du Dich eher als Gitarrist oder als Keyboarder? Oder als Multiinstrumentalist?

Philipp: Weder noch und sowohl als auch. Im Studio versuche ich mich an vielen Instrumenten, live spiele ich lieber Gitarre als Keyboard. Wobei ich mich, was das Spielen der Gitarre angeht, vor allem für Effektpedale interessiere.

eclipsed: Live spielst Du nur mit einem Schlagzeuger zusammen. Wie schaffst du es, da die doch komplexeren Strukturen zu reproduzieren? Die Tour sollte Ende April losgehen. Ich vermute, sie wird oder ist schon abgesagt. Wie schmerzlich ist das?

Philipp: Es ist auf jeden Fall immer eine Herausforderung, die Stücke in Live-Versionen umzuwandeln.  Gleichzeitig ist es bei Konzerten nicht mein Anspruch, die Musik eins zu eins wie auf Platte wiederzugeben. Lieber finde ich mit meinem Schlagzeuger Ran Levari neue und interessante Wege, die Stücke zu präsentieren. Zunächst herrschte bei mir große Enttäuschung darüber, dass das Album mitten in der Corona-Krise erscheinen wird, und nach und nach alle anstehenden Konzerte um die Veröffentlichung abgesagt werden. Aber ich sorge dafür, dass mein Gemüt und mein Empfinden nicht nur von meiner Musik, ihrer Veröffentlichung und den dazugehörigen Prozessen abhängig ist. Ich lenke zurzeit meine Gedanken in positive Richtungen, koche und lese viel und denke nach. Jeder Mensch ist von diesem Ereignis betroffen - und nach der Kenntnisnahme, dass die auf sich selbst bezogenen Konsequenzen im Großen und Ganzen von eher bedeutungsarmer Natur sind, gestalten sich auch auf einmal ganz neue Gedankengänge und Prioritäten. Und natürlich freue ich mich auf die Veröffentlichung von „Haut“ und hoffe, dass Menschen darin etwas Gutes für sich finden.  

*** Interview: Bernd Sievers