JETHRO TULL - Rock gegen die überregte Gesellschaft

31. Januar 2022


Jethro Tull Ian Anderson

JETHRO TULL - Rock gegen die überregte Gesellschaft

Eine große Rock-Überraschung gleich zu Beginn des neuen Jahres: 
Jethro Tull sind zurück! Unter dem glorreichen alten Bandnamen legt Ian Anderson mit „The Zealot Gene“ ein reinrassiges Rockalbum vor, das sich unter Bezugnahme auf die biblischen Zeloten um moderne „Eiferer“ 
– Fanatiker und Populisten – sowie den Hass in den sozialen Medien dreht, der das Klima in der modernen Gesellschaft in zunehmendem Maße vergiftet. In einem ausführlichen Gespräch stand uns Anderson nicht nur hierzu Rede und Antwort, sondern erklärte auch, warum er zum alten Bandnamen zurückgekehrt ist, wieso eine Reunion mit dem langjährigen Jethro-Tull-Gitarristen Martin Barre aber eher unwahrscheinlich erscheint.

Das erste unter dem Namen Jethro Tull veröffentlichte Werk seit 2003 ist ein harter Brocken: Da wimmelt es nur so von Bibelreferenzen (siehe Kasten „Ian Andersons moderne Bibelkunde“) und Bezügen auf die in Zeiten von Corona-Verschwörungstheoretikern und „Lügenpresse“-Rufern zunehmend gespaltene Gesellschaft, in der der Fanatismus Blüten treibt. Bekanntlich ist Ian Anderson noch nie vor kontroversen Themen zurückgeschreckt: Bereits auf dem großen Tull-Werk „Aqualung“ (1971) packte er das heiße Eisen „Einfluss und Macht organisierter Religion auf die Menschen“ an (s. a. Kasten Ist „The Zealot Gene” ein „Aqualung 2“?). Mit dem Prog-Konzeptalbum „Thick As A Brick“ (1972) führte er den Fan- und Medienrummel mit all seinen absurden Wirklichkeitsverzerrungen und Heilserwartungen vor und machte sich zugleich über ebenjenes (über-)ambitionierte Genre lustig. Auf „War Child“ (1974) warnte Anderson inmitten der bequemen Konsumgesellschaft vor den Folgen des Krieges und bereits auf „Stormwatch“ (1979) vor einem Klimawandel. Wahrhaft viel hat er nun auch hineingepackt in das brandneue Jethro-Tull-Werk. 

Erhellend sind die Liner Notes von „The Zealot Gene“, in denen Ian Anderson das Thema des Albums wortgewandt auf den Punkt bringt: 
„Ich denke, wir haben als Teil unseres menschlichen Daseins eine innere Wut, die so viel von unserer Identität bestimmt. Fast jedem von uns ist die Tendenz eingepflanzt, sich über ein Thema zu ärgern, von dem wir besessen sind. Allzu leicht öffnen wir unsere Türen der Indoktrination durch fromme Gesänge und zersetzenden parteipolitischen Extremismus, lassen Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und rechtsradikalen Konservatismus herein. Es ist fast so, als ob wir eine genetische Komponente hätten, die uns zu diesen subintellektuellen Graffitis treibt, die heutzutage aus der Spraydose der sozialen Medien freigesetzt werden.“

eclipsed: Wir leben in schwierigen Zeiten. 
Wie geht es dir, Ian?

Ian Anderson: Es vergeht fast kein Tag, an dem ich keinen Covid-19-Test machen muss, um reisen und mit Leuten zusammenarbeiten zu können. Aber ich bin dem Virus entkommen und nun bereits geboostert. So weit, so gut. Doch selbst wenn keiner von uns schwer erkrankt und ins Krankenhaus muss, aber einer von der Band oder Crew positiv getestet wird, kommt mindestens für zehn Tage alles zum Erliegen. Wir alle müssen besonders vorsichtig sein und nicht nur Verantwortung für uns selbst, sondern auch für unsere Familien und Liebsten übernehmen.

eclipsed: Die Fertigstellung von „The Zealot Gene“ hat sich ja ziemlich hingezogen…

Anderson: Ja, seit circa 2016. Dazwischen kam noch das Album „Jethro Tull – The String Quartets“ [von Ian Anderson, John O’Hara und dem Carducci String Quartet, Anm.] heraus, und 2018/19 waren wir viel auf Tour. Anschließend kam die Pandemie, und wir konnten vor den Impfungen lange nicht gemeinsam im Studio arbeiten. „The Zealot Gene“ ist dann aber wie in alten Tagen aufgenommen worden, mit Livearrangements im Studio.

eclipsed: Warum kehrst du jetzt nach mehreren Alben unter eigenem Namen bzw. als „Jethro Tull’s Ian Anderson“ erstmals seit 2003 wieder ganz zum alten Bandnamen zurück? 

Ian Anderson: Nun, schon als ich 2017 erstmals an den ersten fünf Songs dieses Albums zu arbeiten begann, wollte ich ein eindeutiges Rockalbum machen. Mit den Leuten in der Band arbeite ich nun schon seit 16, 17 Jahren zusammen. Da sie das längste Band-Line-up in unserer Geschichte darstellen, verdienen sie es auch, ein echtes Jethro-Tull-Album einzuspielen. Diese Entscheidung fiel praktisch gleich zu Beginn. Wären da andere Musiker involviert, wäre ich geneigt, es ein Ian-Anderson-Solowerk zu nennen. Jetzt wo ich zurückblicke, sehe ich aber, dass ich bereits 2014 „Homo Erraticus“ als Jethro-Tull-Album hätte veröffentlichen sollen. Damals war ich diesbezüglich noch unsicher, obwohl es ebenfalls ein Progressive-Rock-Album in der Tradition von Jethro Tull war.

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