DAVID JUDSON CLEMMONS - Sprachrohr der einfachen Menschen

Der US-Amerikaner David Judson Clemmons hat schon vor vielen Jahren eine neue Heimat in Berlin gefunden. Rockmusik, hochgradig emotionale Rockmusik ist das, was er auf seinen Soloalben und mit seinen beiden Bands JUD und The Fullbliss präsentiert. Während seine Solowerke spartanischer arrangiert sind und The Fullbliss schwelgerisch und sehnsüchtig dahinrocken, geht es bei JUD durchaus heavy und rau zu. Immer jedoch befasst sich David Judson Clemmons mit den alltäglichen Kämpfen, mit der Gesellschaft und der Politik, die das Leben des sogenannten kleinen Mannes zur Strapaze machen können. Mit eclipsed spricht der Wahlberliner über seine Bands, über sein Leben, über die heutige Zeit und über das jüngst veröffentlichte JUD-Album „Generation Vulture“.

eclipsed: Das neue JUD-Album „Generation Vulture“ beginnt mit einem rauen Gitarrendonner. Ist das der Klang, der dem entspricht, wie du die Welt siehst, die Gesellschaft und die „schizoide Menschheit“ (wie du sie im neuen Song „Find Us, Heal Us“ nennst)?

David Judson Clemmons: „Rauer Gitarrendonner“ – das gefällt mir. Ich hoffe, dass meine Werke die Gesellschaft lyrisch und klanglich widerspiegeln. Seitdem ich als Künstler angefangen habe, spüre ich in mir die Fähigkeit, dies auszudrücken. „Schizoide Menschheit“ bezieht sich darauf, dass der Begriff „Menschheit“ eigentlich ganz liebenswert klingt, obwohl heutzutage viel zu wenig Freundlichkeit zu finden ist und manche Leute richtige Bastarde sind. 

eclipsed: All die Lyrics sind voller Wut, Verzweiflung, Bitterkeit, Traurigkeit. Wie kommt es dazu?

DJC: Ich bin eine sehr optimistische Person. Ich versuche, die Dinge immer positiv zu sehen. So etwa: „Hey, heute geht die Welt unter. Aber es ist immer noch ein schöner Morgen.“ Seltsamerweise inspirieren mich jedoch all die Kämpfe und Mühen. Meistens startet es damit, dass ich mit mir selbst nicht zufrieden bin. Dann macht es irgendwann „Klick“ in meinem Kopf, egal, ob ich in einem Zug sitze oder irgendwo in der Stadt spazieren gehe und eine arme Seele sehe, die ihre Beine verloren hat oder nicht mehr sprechen kann. Wenn ich sehe, wie viele Menschen jeden Tag kämpfen müssen, um den nächsten Tag zu erleben, und es gleichzeitig so viele gierige, undankbare Leute auf diesem Planeten gibt, dann kriege ich Bauchschmerzen. Das feuert mich an, mich damit zu beschäftigen und die Wahrheit zu erzählen.

eclipsed: Das Album trägt den Untertitel „An Album For The Living. An Album For The Dead“. Was hat es damit auf sich?

DJC: Das hat eine wortwörtliche und eine metaphorische Bedeutung. Wortwörtlich: Jeder von uns hat in den letzten Jahren Freunde und Familienangehörige verloren. Für all diese ist die Musik. Metaphorisch: Die Musik ist für alle, die wir lieben. Für alle, die ihr Leben „lebendig“ leben, und auch für diejenigen, die, während sie leben, gleichsam schon „tot“ sind, also irgendwie einsam und isoliert. Mit diesem Album möchte ich eine Brücke schlagen und beide verbinden. 

eclipsed: Auf deinem letzten Soloalbum „Cold White Earth“ gibt es in dem Song „You Died Again Today“ die Zeile: „The only way to live is to die and try again.“ Denkst du, die Welt wird sterben und es dann erneut versuchen (können)?

DJC: So wortwörtlich habe ich es natürlich nicht gemeint. Es ging damals für mich darum, den Reset-Knopf zu drücken und nüchtern zu werden, weil ich ein starker Trinker war. Oh Mann, jetzt erwähnst du diesen Song, und in mir kommt wieder dieses Gefühl hoch, dass ich sterben und ganz neu beginnen muss. Jetzt gerade kommt mir dazu passend eine Szene in den Sinn … du musst wissen, ich bin ein Science-Fiction-Fan … die Szene in der letzten Episode von „Battlestar Galactica“: Der Kapitän gibt den Befehl, dass die gesamte restliche Raumflotte in die Sonne fliegen und dadurch sich selbst vernichten soll. So etwas will ich ganz und gar nicht. Aber uns sollte bewusst sein, dass so etwas wirklich geschehen könnte, wenn diese gierigen Arschlöcher die Macht übernehmen.       

eclipsed: Wie ordnest du das neue Album im Vergleich zu den älteren ein?

DJC: Ich mag all meine Alben. Bei jedem Album versuche ich, eine Art Zeitkapsel zu erschaffen. Darin möchte ich ein Stück Kultur einfangen. Ich möchte dem Album eine Persönlichkeit verleihen. Wenn du dann Jahre später das Album hörst, dann soll es wie eine „Landkarte“ der damaligen Zeit sein. Ich versuche auch vorherzusehen, was geschehen könnte. Das neue Album habe ich 2014 geschrieben und 2015 aufgenommen. Also lange bevor Trump an die Macht gekommen ist. Es ist schon komisch, aber in der Nacht, als wir die Basistracks für das Album fertig hatten, geschah der Anschlag auf den belgischen Flughafen. Und an dem Tag, als wir das Mixing fertig hatten, gab es den LKW-Anschlag in Nizza. Das sind schreckliche Menschen, die so etwas machen. So viele unschuldige Opfer. An beiden Tagen kam ich so glücklich von den Sessions nach Hause. Dann sah ich die Nachrichten und dachte, dass wir in unserem Leben nicht länger glücklich sein dürften. „Generation Vulture“ ist der Versuch, diesen Ruck in Gesellschaft und Kultur einzufangen. So viele Dinge ändern sich, psychisch, mental, technisch, global, kulturell. Das wollte ich auf das Album packen. Ich habe mich sehr bemüht, das Album auch zeitlos werden zu lassen, ohne Kompromisse, mit vielen Gitarren, und James, Steve, Jan und Anne zu integrieren [DJCs langjährige musikalische Begleiter].

eclipsed: Du stammst aus Virginia, USA. Erzähl bitte ein wenig aus deinem früheren Leben.

DJC: Ich bin 1966 in Virginia geboren und 1986 nach Los Angeles gegangen. Da war ich gerade 19. Diesen Schritt habe ich allein mit meinem Bandkollegen Steve Cordrey getan. Es war eigentlich verrückt, aber wir haben es gemacht. Steve lebt immer noch dort. In der Highschool hatten wir verschiedene Bands. Wir spielten Coversongs von Black Sabbath, Iron Maiden, Judas Priest und andere Klassiker. Damit waren wir etwas isoliert in Richmond, Virginia. Mein Vater besaß ein kleines Geschäft, und ich hatte viele Freunde. Wir waren eine gute Familie. Nachdem ich nach Los Angeles gegangen bin, sind aber einige Familienmitglieder gestorben. Dadurch hat sich vieles verändert. Es war allerdings immer noch eine gute Grundlage für den Start ins Leben. In Los Angeles machte ich verschiedene Jobs. Ich habe vieles ausprobiert. Speed Metal zum Beispiel. Mit Ross Robinson und Dave McClain habe ich in der Band Murdercar gespielt. Ich am Bass. Das hat jede Menge Spaß gemacht. Von da an habe ich aber auch meine eigenen Sachen umgesetzt und viele Songs für mein eigenes Projekt Ministers Of Anger geschrieben. Dave spielte die Drums und ich alle anderen Instrumente. Das war vielleicht kranker Stoff. Heute könnte ich das gar nicht mehr spielen. Das wurde vor ein paar Jahren wieder neu aufgelegt. Aus Ministers Of Anger ist jedoch nichts geworden. Später lebte ich in Pittsburgh. Dort kam ich mit Chris Poland (dem Originalgitarristen von Megadeth) zusammen. Wir gründeten die Band Damn The Machine. Ich sang und spielte Gitarre. Wir jammten. Wir haben tatsächlich einen Major-Deal bei A&M bekommen. Das war eine tolle, aber kurze Episode. Es hätte mehr draus werden können, aber unser Management war seltsam. Wir wurden in Klamottenläden geschleppt, mussten unsere Frisuren ändern, und ich verspürte den Druck, wie David Lee Roth sein zu müssen. Das war einfach nicht mein Ding. Das ging mir einfach zu weit. Als sie mich auf eine Schauspielschule schicken wollten, haben wir die Sache geschmissen. Verdammtes Hollywood. Ich habe gesagt: „Scheiß drauf“, mein teures Gitarrenequipment verscherbelt und meine alten Marshall-Verstärker wieder rausgeholt und mit meinen alten Kumpels JUD gegründet. Das war 1994. Aus heutiger Sicht eine großartige Entscheidung.    

eclipsed: Wann bist du nach Berlin gekommen? Und wieso bist du hiergeblieben?

DJC: Das war 2000. In Berlin kann man einfach gut leben. Aber bereits 1993 bin ich das erste Mal nach Europa gekommen. Das war, als wir mit Damn The Machine einen Monat lang mit Dream Theater getourt sind. 2000 habe ich gar nicht groß darüber nachgedacht. Im Nachhinein war auch das eine gute Entscheidung. Künstlerisch passe ich viel besser nach Berlin als nach Los Angeles. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welcher Blödsinn in L.A. passiert. Für meine Band The Fullbliss sollten wir einen Plattenvertrag unterzeichnen. Dann sagte der Typ von der Plattenfirma doch glatt, dass sie keine Verträge mit Musikern machten, die älter als 25 seien. So etwas macht mich krank. L.A. ist ein seltsamer Ort. Ich vermisse die Stadt, aber mein Zuhause ist jetzt Berlin. Ich habe hier Freunde und Fans, und niemand kümmert sich darum, wie alt ich bin. Und ich kümmere mich nicht darum, wie alt andere sind. Das ist für mich das richtige Leben.

eclipsed: Was hältst du von Donald Trump?

DJC: Ein Stück Hundescheiße auf der Straße, über das du mit deinem Bike immer und immer wieder fahren musst, bis es endlich weg ist. Gib mir die Gelegenheit dazu, und ich mache es. Er ist ein selbstsüchtiger Idiot, ohne Sinn für Diplomatie. Bernie Sanders wäre der Mann gewesen. Das Problem ist: Die Leute sind Arschlöcher. Sie wollen Frieden und Freiheit. Und dann beschweren sie sich die ganze Zeit über jemanden, der sie in genau diese Richtung führen möchte. Sie wollen nicht, dass arme Leute die gleiche medizinische Versorgung wie die Reichen bekommen. Die Amerikaner brauchen eine neue mentale Justierung. Wie ein Schläger in der Schule. Der braucht auch mal vor aller Augen was auf die Nase. Dann darf er sich setzen und heulen und sich entschuldigen. Dann geht er schlafen, steht am nächsten Tag auf und kann versuchen, aus sich einen besseren Menschen zu machen. Das braucht Amerika. Und das ist der Grund, warum Amerika diesen Idioten gewählt hat.   

eclipsed: Wie entscheidest du, für welches deiner Projekte, JUD oder The Fullbliss oder solo, du einen Song verwenden willst?

DJC: Das ist die freie Auswahl: die, der, das, weiblich, männlich, neutral, was darf es sein? Normalerweise weiß ich das, wenn der Song fertig ist. Wenn wir gerade an einem Album arbeiten, dann schreibe ich die Songs auch genau für dieses Album. Normalerweise fallen mir die Ideen einfach so zu. Keine Ahnung, vom Kosmos gesteuert vielleicht. Ich versuche, diese Ideen dann in Melodien und Worte zu fassen. Ein Album ist dann ein Träger dieser Ideen. Die Welt ändert sich, und ich wäre nicht überrascht, wenn das Albumformat irgendwann verschwindet und nur noch Videosingles verkauft würden. Aber ich mag Alben.

eclipsed: Worin unterscheiden sich JUD, The Fullbliss und David Judson Clemmons, der Solokünstler?

DJC: Meine Gefühle dazu sind schwer in Worte zu fassen. Ich fühle gewisse Strukturen, die die verschiedenen Ausrichtungen vorgeben. Die jeweiligen Songs sprechen für sich. The Fullbliss hat einen eher südlichen Einfluss. Indie, Los Angeles, alles eher amerikanisch. Streicher sind präsent im Sound, und alles wirkt etwas leichter. JUD hingegen ist ganz klar düsterer und heavy. JUD entsteht mehr als Teamwork. Das beinhaltet eher ein Familiengefühl. Selbstverständlich haben die Songs laute Gitarren, einen schweren Bass. Das ist ein echtes Power-Trio, mit exzellentem Schlagzeug. JUD ist die Band, die nicht berühmt werden, aber am Laufen gehalten werden sollte, gewissermaßen als Ort, um Spaß zu haben, für die Leute, die diesen Ort kennen. Meine Soloalben entstehen zwischendurch, wenn ich nicht weiß, was ich machen soll. Die DJC-Songs sind eher europäisch geprägt. In den letzten Jahren habe ich das Gitarrespielen etwas vermisst, und das brachte mich zurück zu JUD. Ich möchte keines meiner Projekte in den Vordergrund stellen. Es ist auch ein Spaß, sich abzuwechseln und die Dinge etwas chaotisch zu halten. Manchmal denke ich zwar, ich sollte mich nur um eines kümmern. Aber immer wenn das passiert, bekomme ich Feedback von den Fans, dass sie auch die anderen Projekte mögen. Ich denke, ich lasse es so, wie es ist.

eclipsed: Was sind deine Stärken und Schwächen?

DJC: Oh … Stärken: Ich bin angetrieben von einer kreativen Kraft, die mich auch dann weiter komponieren und singen lässt, wenn andere schon längst aufgegeben hätten. Ich gehe immer weiter. Manche mögen darüber lachen. Aber ich gehe weiter, weil ich das brauche und weil andere das brauchen. Schwächen: Ich habe zu viele Ideen. Mein Bewusstsein ist ein wilder Ort. Ich versuche ständig, mich auf nur wenige Dinge zu konzentrieren. Ich sprach gerade mit meiner Frau darüber, was mir alles im Kopf rumschwirrt. Alle paar Sekunden ein neues Thema. Sie konnte es kaum glauben. Ich muss lernen, das zu kontrollieren.

eclipsed: Als was siehst du dich? Als Rebellen? Als Poeten?

DJC: Ich mag Geschichten wie die von David und Goliath, Robin Hood oder John Henry. Ich habe nie fanatischen oder opportunistischen Typen vertraut. Ich habe keine Probleme mit Religion. Aber ich denke, es ist falsch, wenn der eine den anderen dazu zwingt, in die Kirche zu gehen. Ich hoffe, ich repräsentiere den Arbeiter und spreche für den normalen Menschen – und dass ich so singen und sprechen kann, dass die Leute zusammenkommen, von rechts und links, von oben und unten. Eine gemeinsame Basis finden. Als Rebell möchte ich mich nicht bezeichnen. Doch ich möchte ein Fürsprecher der Schwachen und Geschlagenen sein. Ich hoffe, ich bin ein Poet. Aber nicht im literarischen Sinne, sondern mehr durch die Gefühle, die meine Worte auslösen. Ich versuche, Worte zu finden, die andere nicht benutzen. In Los Angeles habe ich mal einem Freund, mit dem ich in den 80er Jahren in Richmond in einer Coverband war, übers Telefon die Lyrics eines neuen Songs vorgelesen. Er unterbrach mich und sagte: „Mann, was du schreibst, ist so anders. Deine Worte haben Kraft und Stärke.“ Ich denke, das war der Augenblick, in dem ich merkte, dass ich es kann und dass ich damit weitermachen sollte. Wobei ich nie großes Interesse am Lesen hatte. Wenn ich lese, schlafe ich ein. Nur wenige Bücher können mein Interesse wachhalten. Jules Verne zum Beispiel. Ich empfinde meinen Job als Schreiber als wichtig für mich. Auch wenn ich keinen großen Erfolg damit habe. Aber wer weiß. Ich mache weiter.    

eclipsed: Deine musikalische Karriere dauert nun schon über 20 Jahre an. Wie siehst du deine persönliche Entwicklung?

DJC: Meine ersten Aufnahmen mit Dave McClain und Ministers Of Anger waren 1987. Das liegt schon 30 Jahre zurück. Nach Berlin zu ziehen, hat meiner Entwicklung sehr gutgetan. Ich denke, die Kombination aus Southern Virginia, West Coast L.A. und Berlin feuert meine Arbeit und mich persönlich an. Dinge, die ich in den USA verinnerlichte, habe ich wieder abgelegt. Damit meine ich auch dies: Jemand, der einen Tagesjob hat oder mit den Händen arbeitet oder Musik macht, muss kein Verlierer sein. Demnächst kommt mein siebtes Kind auf die Welt, und der Alltag ist ein Marathonlauf. Ich bin extrem stolz auf das, was ich erreicht habe. Ich muss akzeptieren, dass das Schicksal mich auf dem Teppich hält. Wenn ich traurig oder verzweifelt bin, ist das nur vorübergehend. Wenn das durch meine Texte durchscheint, dann ist das auch nur vorübergehend und liegt einfach an den Zeiten, in denen wir leben. Ich fühle mich ein bisschen weise nach all meinen Reisen. Für einen nicht so erfolgreichen Musiker bin ich weit herumgekommen. Ich hatte das Glück und traf viele tolle Menschen. Klar, ich bin gereift, aber ich muss immer noch lernen und wachsen. Ich weiß, dass ich in der zweiten Hälfte meines Lebens bin und dass ich die Chancen, die sich mir jetzt bieten, nutzen muss. Und ich muss mir klarmachen, dass meine Position als Frontmann von JUD und The Fullbliss eine ganz besondere ist. Wir sind zwar nur klein, aber es gibt viele noch kleinere Bands. Auch wenn ich noch viele Wünsche habe, bin ich doch glücklich. Ich bin mit mir im Reinen. Meine Seele hilft mir, spricht mit mir und erinnert mich daran, dass all die Kämpfe in meinem Leben auch einen Sinn haben. Das muss ich annehmen und dazu nutzen, mit anderen Leuten verbunden zu bleiben, mich nicht über sie zu stellen oder mich unterzuordnen, mit ihnen auf derselben Stufe zu leben, sei es mit dem letzten Abschaum oder den nobelsten Geistern. Ich muss weitermachen.

*** Interview: Bernd Sievers