PINK FLOYD - 40 Jahre Wish You Were Here

26. August 2015

Pink Floyd

Vielleicht begann der Mythos von „Wish You Were Here“ an jenem Donnerstag, dem 5. Juni 1975 – mit dem mysteriösen Besucher in den Abbey Road Studios. Pink Floyd arbeiteten gerade am finalen Mix des Kernstücks ihres kommenden Albums, „Shine On You Crazy Diamond“, ein Lied über ihren ehemaligen Frontmann Syd Barrett und dessen unaufhaltsamen geistigen Verfall. Plötzlich steht ein kahlköpfiger, dicklicher, verwirrt dreinblickender Mann im Raum, ganz in Weiß gekleidet, mit abrasierten Augenbrauen und einer weißen Plastiktüte in der Hand. Zunächst dachten die Musiker, es sei ein ihnen unbekannter EMI-Mitarbeiter, doch bei genauerem Hinsehen wurde David Gilmour stutzig: „Erkennst du ihn? Schau ihn dir genau an“, flüsterte er mit Tränen in den Augen zu Nick Mason. Die Band hatte ihren ehemaligen Kollegen und Freund seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen. Die letzten Kontakte gab es 1970, als Gilmour und Roger Waters bzw. Gilmour und Rick Wright Barrett bei dessen beiden Soloalben unter die Arme gegriffen hatten. Nun stand er da, während die von ihm gegründete Band an einem Lied über seine körperliche, vor allem aber seine geistige Abwesenheit arbeitete. Syd Barrett war der gespenstische Schatten jenes attraktiven, kreativen Underground-Idols der psychedelischen Sechziger – eine verlorene Seele.

Das Thema Abwesenheit, das das Album durchdringt, wurde dank dieses Aufeinanderpralls von Kunst und Wirklichkeit auf unheimliche Weise unterstrichen. Und es brannte sich nicht nur in die Köpfe der Musiker, sondern auch in den des ebenfalls anwesenden Designers und Bandvertrauten Storm Thorgerson. Es ist also mehr als Spekulation, wenn wir sagen, dass durch diese Begegnung das Gesamtkunstwerk „Wish You Were Here“, wie man es heute kennt, geboren wurde.

Die Band war nach dem Erfolg von „The Dark Side Of The Moon“ nicht gewillt, sich der immensen öffentlichen Erwartungshaltung zu beugen und – wie Nick Mason es in seinem autobiografischen Buch „Inside Out“ treffend formuliert – „Dark Side Of The Moon 2: The Return Of The Lunatic“ aufzunehmen. „Die Plattenfirma machte auch nicht so viel Druck“, erinnert sich der Schlagzeuger, „so dass wir erst mal experimentieren konnten“. Dies sah so aus, dass das Quartett eine ihrer exzentrischen Ideen umzusetzen begann: Sie machte sich an einem Album zu schaffen, das den Namen „Household Objects“ tragen und ausschließlich mit haushaltsüblichen Gegenständen – Gläsern, Tellern, Gabeln usw. –, eingespielt werden sollte. In Zeiten vor dem Siegeszug der Sampling-Technik ein aufwändiges Unterfangen. „Wer sich schon immer fragte, warum es fast jeden Ton von Pink Floyd als Bootleg gibt, aber keinen dieser Songs: Es liegt daran, dass es keine Songs gibt. Wir verbrachten im Herbst 1973 zwei Monate damit, die Klänge auszuprobieren, manchmal wurden wir schon rhythmisch, meist aber waren es nur Sounds, und dann verwarfen wir das Ganze“, so Mason. Auf den 2011 erschienenen Immersion-Boxsets zu „Wish You Were Here“ („Wine Glasses“) und „Dark Side“ („The Hard Way“) tauchte immerhin je ein Fragment auf.

Schöpferische Pause

Zunächst geschah also noch nicht viel in Sachen Nachfolge-LP. Pink Floyd verbrachten nach Verwerfen des „Household Objects“-Projekts den ersten Teil des Jahres 1974 damit, ihren neu gewonnenen Weltruhm zu genießen; die Musiker gaben eine Menge Geld aus und widmeten sich ihren Hobbys und Familien. Neue Songs waren im Moment kein Thema. Im Sommer standen allerdings ein paar Gigs in Frankreich und ab November eine größere Englandtour auf dem Programm; dafür sollten auch neue Stücke her. Die Gruppe kam wieder zusammen: In einem Studio im Londoner Stadtteil Kings Cross probierte sie neue Ideen aus. Als David Gilmour plötzlich jene vier Töne auf seiner Gitarre anschlug, die später die Basis für „Shine On You Crazy Diamond“ bildeten, durchzuckte es Waters: Vor seinem geistigen Auge spulte sich die dramatische Geschichte seines Jugendfreundes Syd Barrett wie ein Film ab, und er verfasste daraufhin eine lyrische Hommage an den „verrückten Diamanten“, der sein Leuchten verloren hatte. Die Band schrieb eine knapp dreißigminütige Komposition, eine Weiterentwicklung der sinfonischen Epen „Atom Heart Mother“ und „Echoes“. Dazu legte Waters noch zwei weitere, abgrundtief zynische Texte vor, die die Bestie Mensch zum Thema hatten. Auch daraus entstanden zwei längere Tracks, „Raving And Drooling“ und „You Gotta Be Crazy“. Nun hatten Floyd genug neues Material für die Tour zusammen; mit diesem wollten sie ihre Konzerte eröffnen. Nach der Tour wollten sie im Studio weiter an den nun feuererprobten Songs feilen, um am Ende der jetzt doch langsam nervös werdenden Plattenfirma ein neues Album präsentieren zu können.

Auch wenn „Wish You Were Here“ heute häufig als Höhepunkt im Schaffen Pink Floyds angesehen wird, offenbarte jene Englandtour und der folgende Beginn der Aufnahmesessions im Januar ’75 die Unzufriedenheit der Musiker mit ihrer Situation als Superstars. Vor allem aber machte sie die immer tiefer werdenden Gräben untereinander sichtbar. Im Magazin „New Musical Express“ schrieb der wohl einflussreichste Musikkritiker jener Zeit, Nick Kent, einen üblen Verriss der Gigs. Er sprach von „überflüssigem musikalischen Ballast“, den die Band mit sich herumtrage, dessen „pathetische“ sozialkritische Botschaften aus dem Munde von Neureichen höchst unglaubwürdig seien; ein Problem, das zumindest Roger Waters durchaus erkannt hatte und das ihn noch lange umtreiben sollte. Noch 2011, in der Dokumentation „The Story Of Wish You Were Here“, zeigte sich Kent unnachgiebig: „Das hat einfach nichts getaugt, was sie da auf der Bühne präsentiert haben.“

Lesen Sie mehr im eclipsed Nr. 173 (September 2015).