Mastermind Ian Anderson überrascht in dritter Folge mit einem ambi-tionierten neuen Studioalbum unter dem legendären Banner Jethro Tull. Nach „The Zealot Gene“ (2022) über moderne Eiferer und Populisten und „RökFlöte“ (2023) über die nordische Götterwelt erscheint nun „Curious Ruminant“ – nachdenkliche, teils sehr persönliche Folkrocksongs, geschrieben aus der Position des reifen Lebensalters.
Auch ein siebzehnminütiger Longtrack ist dabei, der wieder die progressive Seite der Band betont. Überraschende Offenheit in gesundheitlichen, politischen und ökologischen Themen sowie bildreiche Hintergründe zu den Songs des neuen Albums prägen das Interview. Infos zum Artwork und den neuen Gitarristen Jack Clark sowie kuriose Anekdoten aus Andersons bewegtem Leben runden das launige Gespräch ab.
Wie schon zu „RökFlöte“ (2023) lädt Tull-Boss Ian Anderson in Einzelinterviews zum großen Talk in die Sony-Music-Zentrale nach Berlin-Schöneberg. Oliver Bergmann von Oktober Promotion kümmert sich darum, dass alles reibungslos abläuft und führt die Besucher in eine schalldichte Raumkabine, was schon mal für eine ungestörte Atmosphäre sorgt. Als Handshake mit Anderson gibt es wie üblich nur den Ellenbogen, selbst wenn man eine lange und sehr freundschaftliche journalistische Beziehung mit dem als schwierig geltenden schottischen Musiker und Multitalent vorweisen kann. Beim uneingeschränkten Tull-Chef muss man schon mal darum kämpfen, alle Fragen anzubringen, denn Anderson antwortet ungeheuer detailreich, redet buchstäblich wie gedruckt. Als echter Medienprofi beantwortet er offensichtliche Fragen oft gleich mit, bewahrt jedenfalls immer die volle Kontrolle (was auch ein Thema sein wird). Ein sehr vitaler und absolut relaxter Ian Anderson sitzt einem da gegenüber, der immer mal die Beine übereinanderschlägt. Sogar bei der Aufzeichnung mit dem Diktiergerät des Smartphones ist er behilflich: „Ist das Mikrofon nicht an diesem Ende? ‚Test. Test‘. Ah, die Levels sind ok.“ Sehr offen äußert er sich im Folgenden über seine Asthma-Erkrankung oder seinen Ruf als Kontrollfreak. Auf die rege Diskussion der Themen des neuen Albums folgt auch eine über Israel, bei der Anderson nicht mit Kritik an Kollege Roger Waters zurückhält, sowie über den Klimawandel, vor dem er drastisch warnt.
eclipsed: Ian, du hast dein Versprechen wahr gemacht, direkt nach „RökFlöte“ mit einem neuen Album anzufangen, und hast damit nach Corona drei aufeinanderfolgende Tull-Alben veröffentlicht. Woher nimmst du nach all der Zeit im Rock-Business diese Kraft und Inspiration?
Anderson: Ich nehme mir nun mehr Zeit, weil wir in den Jahren vor Covid bis zu 120 Konzerte pro Jahr gespielt haben. Wenn man die Reisetage hinzurechnet, ist das ist die Hälfte meines Lebens. Ich schlief mehr in Mr. Hiltons Bett als zu Hause. Als Covid kam, hat mir das mehr Freizeit für Alben-Aufnahmen, Mixing, Mastering, Artwork etc. verschafft. Letztes Jahr habe ich fast nur an dem neuen Album gearbeitet, dafür hatten wir im letzten Sommer kaum Konzerte. Und dieses Jahr werde ich noch weniger geben. Letztes Jahr waren es vielleicht 65, dieses Jahr werden es circa 50. So habe ich mehr Zeit. Die Idee ist, mindestens eine Show pro Woche zu spielen.
eclipsed: Weil du es erwähnst… wann kommst du mit einer neuen Setlist und Songs des neuen Albums auf Deutschland-Tour?
Anderson: Im März proben wir mit der Band, um eine andere Setlist für den Rest des Jahres 2025 zu erstellen – mit Musik vom neuen Album sowie wahrscheinlich nur je einem Track von den letzten beiden. Dadurch können wir viele Songs in die Setlist bringen, die wir seit einigen Jahren nicht mehr gespielt haben. Und ein paar Jungs in der Band haben sie in einigen Fällen noch gar nie gespielt, besonders Jack, der neue Gitarrist. Ich meine, er muss 75 Prozent des Sets lernen, das er noch nie zuvor gespielt hat!
eclipsed: Wie kam es dazu, dass Jack Clark jetzt für Joe Parrish dabei ist?
Anderson: Nun, Joe ersetzte unseren vorherigen Gitarristen Florian Opahle. Florian wollte sich aus privaten Gründen von Live-Auftritten zurückziehen, und Joe Parrish-James war eine der Personen, die ich als Ersatz in Betracht zog. Er war ein junger, unbekannter Gitarrist, der noch nie außerhalb seines Schlafzimmers Gitarre gespielt hatte, aber er wusste eine Menge über Jethro-Tull-Musik und hatte eine Vorliebe für diese Art von Folkrock-Tradition – und er war gut. Also kam er und trat der Band für „RökFlöte“ ganz bei. Doch er fühlte sich immer unwohler wegen des Reisens, weil es seine körperliche und geistige Gesundheit wirklich sehr beeinträchtigte. Daher beschloss er, vom internationalen Rockstar-Dasein zurücktreten und sich auf seine eigene Band zu konzentrieren, wobei er nur gelegentlich einen Club-Gig spielen will. Jack ist ein Mitglied seiner Band und war zuerst gekommen, um Bass zu spielen, als unser Bassist David Goodier operiert wurde. Nicht, dass er ein Bassist wäre, er ist Gitarrist. So lernte Jack aber, wie wir bei Jethro Tull arbeiten ...