Auf dem neuen Album „Allow Yourself“ leitet der Italiener Giancarlo Erra mit seiner Band Nosound einen Richtungswechsel ein. Der Artrock und der Progressive früherer Alben sind nur noch in Spurenelementen vorhanden, nun liegt der Schwerpunkt im Alternative-Bereich. Das für Nosound charakteristische, sanfte, melancholische Gesamtklangbild bleibt aber bestehen. eclipsed sprach mit Erra über seine künstlerischen Ambitionen.
eclipsed: Auf dem neuen Album hast du den Fokus weg vom Artrock/Progrock zu eher songkompatiblen Strukturen sowie Alternativ und Electronic verschoben. Wieso das?
Giancarlo Erra: Ich denke, das ist ein ganz natürlicher Prozess, der sich von Album zu Album entwickelt hat. Schon auf dem letzten Album „Scintilla“ hat sich das abgezeichnet, aber es war mir wohl selbst damals noch nicht so bewusst. Wechsel, Veränderung und Weiterentwicklung sind ganz natürliche Dinge im Leben. Und gerade im künstlerischen Bereich sind diese Dinge besonders wichtig. Ohne das wiederholt man sich oder wird zügellos. Das ist dann ein geringeres künstlerisches Niveau. Prog selbst habe ich nur in meiner Jugend in den 90er viel gehört, wenn man denn Pink Floyd oder Sachen wie „In The Court Of The Crimson King“ von King Crimson oder die ersten Genesis-Alben nach Peter Gabriels Ausstieg als Prog bezeichnen möchte. Sehr früh habe ich auch Rock-Einflüsse wie die Beatles, Soundtracks und elektronische Musik gehört. Ich sehe mich daher eigentlich nicht als Progfan, wobei natürlich in meinen ersten Alben deutliche Pink Floyd-Einflüsse spürbar sind. Doch ich denke, davon habe ich mich schnell gelöst und Postrock, Alternative Rock, Ambient und Soundtracks integriert. Ich mag einfach die etwas simplere songorientierte Arbeitsweise und das hat in meinen Alben immer mehr Raum eingenommen. Der Unterschied in „Allow Yourself“ ist einfach, dass ich mir die Freiheit genommen habe, mich um keine Erwartungshaltungen mehr zu kümmern und meine Komfortzone zu verlassen. Das war ein schwieriger Prozess aber auch so eine gewaltige Erfahrung, dass ich „Allow Yourself“ als das bislang authentischste Nosound-Album betrachte.
eclipsed: Hast du mit dem Weglassen der Prog-Elemente aber nicht auch eine deiner Stärken abgelegt?
Erra: Nein, auf keinen Fall. Ich sehe es genau andersrum. Ich habe einen alten Einfluss weggelassen, den ich lange genug zugelassen habe und der möglicherweise nie richtig bei mir funktioniert hat, weil Spuren von „Allow Yourself“ schon immer vorhanden waren und genau diese Spuren mir schon immer am besten gefielen. Es war auch ein bisschen frustrierend, dass die meisten Leute immer die „einfachen“ Sachen mit vielen Gitarren und Drums besser fanden. Das ist so ähnlich, wie immer den alten Zeiten hinterherzuhängen. Ich selbst ziehe es vor, mein jetziges Leben zu verbessern, als voller Nostalgie alten Zeiten hinterher zu trauern. Als ich ein Teenager war, da mochte ich Künstler, deren neuen Werke sich nicht von den alten unterschieden. Doch ich habe schnell entdeckt, dass Musiker, die sich wandeln und sich und ihre Hörer immer vor neuen Herausforderungen stellen, viel bewundernswerter sind. Nun, da ich die Hälfte meines Lebens erreicht habe und je mehr Zeit verrinnt, umso mehr mag ich solche Künstler und Menschen im Allgemeinen. Für mich ist es belustigend und traurig zugleich, dass seit den 80er Jahren, die sogenannte progressive Musik zu einer sehr konservativen Musik geworden ist. Wie eine Art Definition, wie Musik zu sein hat. Anstatt offen für alles zu sein.
eclipsed: Du hast bereits 2017 in den Liveshows diese neue Ausrichtung ausprobiert. In wie weit hat das bei der Aufnahme und der Produktion des neuen Albums geholfen?
Erra: Für uns sind Liveshows ein Moment, um uns als Band richtig frei zu fühlen. Für mich sind Konzerte und Studioalben zwei völlig verschiedene Dinge. Ein Album bleibt für immer. Du nimmst es auf in der Absicht, etwas in Stein zu meißeln und deine Gefühle in der Zeit aufzuzeichnen. Ein Konzert ist aber nur eine Momentaufnahme, die in den Erinnerungen und den Gefühlen hängen bleibt. Und genau das mag ich, wenn es um Gefühle geht. Nach meinem Geschmack sollen auch die rockigen Songs auf der Bühne weniger klischeehaft, pompös oder lang sein. Sondern sie sollen unmittelbar sein, entstehen aus einer Interaktion von uns fünf Musikern und dem Publikum. Dadurch dass wir die Songs von „Allow Yourself“ schon live ausprobiert haben, konnten wir sie einfacher weiterentwickeln und verbessern. Gleichzeitig ist so das Livefeeling erhalten geblieben. Es war eben keine Reproduktion eines Studioalbums.
eclipsed: Trotz dieser Neuausrichtung ist das typische sanfte, melancholische Nosound-Klangbild erhalten geblieben.
Erra: Eine einfache Erklärung mag sein, dass wir als Menschen sehr gut darin sind, die Emotionen bei anderen zu erkennen. Selbst wenn wir mit einer Person am Telefon sprechen, die wir nicht kennen, so können wir doch erraten, ob die andere Person traurig, nervös, aufgeregt oder ähnliches ist. Das funktioniert sogar in einer unbekannten Sprache. Nosound-Alben – egal ob alte oder neue – sind immer sehr persönlich, autobiografisch, direkt und ehrlich. Nichts wurde je geschrieben, um etwas Vorheriges zu verbessern oder einen bestimmten Stil zu erfüllen. Dadurch haben alle Alben dasselbe Grundgefühl. Und genau deshalb scheue ich auch vor Veränderungen nicht zurück. Wenn jemand das neue Album nicht mag, dann mag er auch die Essenz des Albums nicht, sondern nur einen bestimmten Stil, weil es bei Nosound immer nur um Gefühle ging. Also ist die Essenz dieselbe geblieben, nur die Ausdrucksform ist eine andere.
eclipsed: Du hast die Gitarren reduziert und der Sound ist sehr sanft und melancholisch. Spiegelt das deinen Charakter wieder?
Erra: Eigentlich bin ich ein sonniger Typ. Aber ich kann Gefühle am besten mit Musik ausdrücken. Mit anderen Mitteln kriege ich das nicht gut hin. Ich denke sogar, dass das neue Album rauer und weniger sanft als seine Vorgänger ist. Eine Wand von verzerrten Gitarren macht noch keinen rauen Sound aus. Es macht das Album eher langweilig. „Allow Yourself“ hat einige ruppige Sounds, einige sehr trockene Sounds. Das Album ist fokussierter und weniger verschwommen. Klar, das Album ist an einigen Stellen melancholisch, aber anderen Stellen wie in „Ego Drip“, „Don’t You Dare“, „At Peace“ und „Defy“ aber nicht. Das wird durch die Lyrics vielleicht noch deutlicher. Songs wie „Shelter“ oder „Saviour“ sind sogar erhebend, denn sie bringen dich – das heißt: mich – in Verbindung mit Gefühlen der Befreiung und des Vorwärtskommens.
eclipsed: Hast du keine Lust, mal rauer, schneller, rockiger zu spielen?
Erra: Nein, ich mag das einfach nicht. Klar, es ist mal ein Spaß, richtig die Sau rauszulassen und auf Headbanging zu machen. Das habe ich als Teenager in irgendwelchen Coverbands zur Genüge getan. Für mich muss aber Kunst Tiefgang und Bedeutung haben. Sonst ist es keine Kunst, sondern Unterhaltung. Versteh mich nicht falsch. Es gibt tolle Musik mit harten Riffs und ich mag auch einige Hardrock-Bands, besonders Led Zeppelin und Tool. Es gibt auch tollen obskuren Stoff wie The God Machine. Und ich liebe es, beim Sport laute, rockige Musik zu hören, um mir einen Energieschub zu geben. Doch ich bin weit davon entfernt, selbst solche Musik zu produzieren. Ich kann mir nicht vorstellen, Riffs zu verwenden, wenn ich stattdessen volle Akkorde auf einem schönen Piano verwenden kann, um Emotionen zu erzeugen. Um ehrlich zu sein: wenn ich mal etwas „Uptempo“ brauche, dann ziehe ich elektronische Musik dem Hardrock vor. Eine Gitarre kann weit weniger zum Gesamtsound beitragen als ein analoger Synthesizer.
eclipsed: Hast du das Gefühl, mit dem neuen Album ein neues Kapitel in deiner Karriere aufzuschlagen?
Erra: Ja, definitiv. Dieser Prozess startete schon mit „Scintilla“. Mit „Allow Yourself“ ist der Schritt nun vollzogen. Mit „Afterthoughts“ haben wir zuvor in 2013 eine Phase abgeschlossen, in der es mehr um die rockige Seite von Nosound geht. Jetzt sind wir erwachsen und wollen etwas Eigenständiges schaffen und gleichzeitig offen für alles sein. Wir wollen uns um die Gegenwart der Musik kümmern, und nicht um die Vergangenheit. Wir wollen unsere eigene Richtung finden, uns auf ein ausgereiftes und zeitgenössisches Songwriting und eine entsprechende Produktion konzentrieren.
eclipsed: Ihr seid eine fünfköpfige Band. Aber du komponierst alle Stücke, schreibst die Lyrics, machst die Aufnahme, die Abmischung und die ganze Produktion. Welcher Spielraum bleibt da den anderen vier?
Erra: Diese Balance war schon immer etwas heikel. Sie hat ihre Vorteile und Nachteile, wie in jeder anderen Band auch. Dass Nosound so funktionieren, liegt genau daran, dass es eine klare Hierarchie und Aufgabenverteilung gibt. Es gibt eine genau beschriebene Arbeitsweise und Kommandokette. Ich denke, wenn es eine solche Ordnung und Organisation gibt, dann auch genügend Raum für Kreativität entsteht. Du musst also nicht lange streiten, argumentieren, diskutieren. Wenn Du weißt, wie es läuft und du die Regeln kennst, dann hat jeder seine Spielwiese, auf der er sich austoben kann. Ich glaube, ich weiß, welche Erfahrung viele Bands irgendwann machen: Wenn du viel Zeit mit anderen verbringen musst und gleichzeitig kreativ sein willst, dann werden irgendwann die Charaktere wichtiger als die Musik. Wenn du mit deiner Band auf nette, lockere und witzige Art umgehen kannst, dann kannst du auch etwas erreichen, selbst wenn ihr verschiedene musikalische Geschmäcker habt. Bei uns beginnt der Songwritingprozess immer bei mir, denn Nosound ist eine sehr persönliche Angelegenheit für mich. Ich zeige der Band dann die Demos, die nur Gesang und Piano haben. Die anderen haben ab da ein Mitspracherecht, können ihre Ideen einbringen. Sie können also selbst entscheiden, wie viel sie einbringen. Für mich ist wichtig, dass jede Kritik konstruktiv ist. Ich mag es nicht, wenn einer sagt „Das ist Mist“ oder nur „Ich mag das nicht“ ohne weitere Erklärung. Ich möchte die Gründe kennen und einen Weg finden, etwas zu verbessern. Über die Jahre hatten wir einige Besetzungswechsel. Wichtig war mir aber immer, dass alle Musiker meine Freunde sind. Nur so kann man solch eine emotionale Musik spielen. So ist es auch mit meinen aktuellen Begleitern: Paolo Vigliarolo an der Gitarre, mit dem ich vor 25 Jahren anfing, Musik zu machen, Marco Berni an den Keyboards, Bassist Orazio Fabbri, der ganz neu dabei ist und Schlagzeuger Ciro Iavarone.
eclipsed: Es ist nun zehn Jahre her, dass dich das renommierte Artrock/Prog-Label Kscope unter Vertrag genommen hat. Wie kam es damals zum Kontakt?
Erra: Ich bin 2008 zu Zeiten des zweiten Albums „Lightdark“ mit Kscope in Kontakt gekommen. Von meinem ersten Album „Sol129“, das ich noch in meiner Teenager-Welt aufgenommen hatte, habe ich relativ gute Verkäufe erzielen können und als „Lightdark“ fertig war, bin ich an das Online-Label Burning Shed rangetreten. Ich hatte schon zuvor Kontakt zu Tim Bowness, der auf einem Song von „Lightdark“ singt. Auch von „Lightdark“ waren die Verkäufe für eine Indieband relativ gut. Und über Burning Shed ist Kscope auf mich aufmerksam geworden. Die haben gerade versucht, ihre Palette mit neuen Künstlern zu erweitern. Der Rest ist Geschichte. Ich habe bei Kscope unterzeichnet und ein Jahr später bin ich nach England gezogen. Ich vermute, all diese Dinge sind wie so viele im Leben eine Kombination aus unglaublich harter Arbeit, die mich dann zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Platz geführt hat. Ich habe mein Studium aufgegeben und drei Tagesjobs angenommen, um meine musikalische Karriere zu finanzieren, an der ich dann nur nachts arbeiten konnte. Jahrelang habe ich so gelebt und das kannst du nur schaffen, wenn du 20 bist. Ich habe alles selbst gemacht. Nur 20 Prozent davon war die Musik selbst. Der Rest bestand aus Emails schreiben, Kontakte knüpfen, ein Netzwerk spinnen, viel Geld ausgeben für eine aufwändige Verpackung, damit dich die Reviewer wahrnehmen und du dich von den anderen unterscheidest, ein teures Studio einrichten, um eine gute Produktion zu ermöglichen, durch Europa zu reisen, um Leute in der Szene zu treffen, Hände zu schütteln, persönlichen Kontakt herzustellen. Manchmal, wenn mich junge Musiker fragen, wie man im Musikgeschäft vorankommt, stelle ich fest, dass diese Musiker nicht willens sind, all diese Dinge auf sich zu nehmen und einfach nur auf ihr Glück hoffen, dass ein Label all das für sie übernimmt. Aber die 70er Jahre sind lange vorbei. Im Musikgeschäft zählt Talent genauso viel wie verdammt harte Arbeit. Das ist stressiger und langweiliger als viele andere Jobs. Bei all dem muss ich sagen, dass ich das Beste erreicht habe, was ich mir vorstellen konnte, denn Kscope ist für mich einfach das beste Label im Alternative Rock-Bereich. Die Mitarbeiter sind zu einer Familie für mich geworden. Sie helfen mir, fordern und fördern mich und akzeptieren, was ich tue. Und sie freuen sich genauso wie ich über das neue Album. Ich hatte erst befürchtet, sie könnten nicht so erfreut sein über den Wechsel. Aber sie sagten, das würde genau zur angestrebten offeneren Ausrichtung des Labels passen.
eclipsed: Du bist nun seit 15 Jahren mit Nosound aktiv. Was waren für dich die Highlights und die wichtigsten Schritte?
Erra: Das ist eine lange Liste. Das Schönste für mich ist, der immer noch anhaltende Spaß, den ich mit all meinen Bandmitgliedern auf der Bühne hatte und habe. Egal, ob es die alten oder die neuen Bandmitglieder sind. Die alten Bandmitglieder kommen immer wieder zu unseren Treffen. Wir sind eine große Familie. Ein tolles Gefühl ist es auch bei jedem Album, die Testpressung in der Hand zu halten. Alles, was ich für lange Zeit im Kopf hatte, ist nun zu etwas Materiellem außerhalb von mir geworden. Das ist wie eine Befreiung, wie ein Kreis, der sich schließt. Auch unsere Konzerte sind Highlights für mich. Die Interaktion mit dem Publikum. Auch die gemeinsame Arbeit, die ich über die Jahre mit Leuten wie Tim Bowness, Chris Maitland oder Vincent Cavanagh hatte, waren toll, weil ich von ihnen gelernt habe und mit ihnen Gefühle teilen und tiefgreifende Gespräche führen konnte. Ich habe mehr erreicht, als ich mir als Teenager erträumt habe. Und dank „Allow Yourself“ weiß ich, dass noch viel Neues auf mich zukommt.
*** Interview: Bernd Sievers