STEVEN WILSON - „Es gibt keinen Grund zu wiederholen, was ich schon einmal getan habe“

1. Februar 2021

Steven Wilson

STEVEN WILSON - „Es gibt keinen Grund zu wiederholen, was ich schon einmal getan habe“

Im Laufe seiner über 30-jährigen musikalischen Karriere hat sich der britische Songschreiber, Sänger und Multiinstrumentalist Steven Wilson stetig weiterentwickelt und immer neue Dinge ausprobiert. Sein Problem dabei: Ein Teil seines Publikums begegnet ihm mit wachsendem Unverständnis. Dabei ist der vielseitige Musiker stets er selbst geblieben, wenn sich auch Instrumente und Sounds immer wieder änderten. Im eclipsed-Gespräch erläutert er, warum er keine Lust hat, Erwartungen zu entsprechen. 

In den YouTube-Kommentaren zu „Personal Shopper“ und „King Ghost“, den ersten Kostproben aus seinem sechsten Soloalbum „The Future Bites“, finden sich Kommentare à la „I’m missing Porcupine Tree“, „just ambient noise with some vocals over it“ oder „not my cup of tea at all“.outtakes Für jemanden, der so viel Zeit und Herzblut in seine Musik investiert wie Steven Wilson, ist das eine schallende Ohrfeige. Ganz offensichtlich sind längst nicht alle Fans bereit, seinen musikalischen Pfaden bedingungslos zu folgen. Dies hält den umtriebigen Musiker freilich nicht davon ab, seinen Weg konsequent fortzusetzen – ganz im Gegenteil.

eclipsed: „The Future Bites“ ist ein sehr pessimistischer Albumtitel. Warum hast du ihn gewählt und wie bissig bzw. gefährlich ist die Zukunft?

Steven Wilson: Als ich vor zwei Jahren anfing, daran zu arbeiten, hatte ich das Gefühl, dass es sehr leicht ist, zynisch in Bezug auf die Zukunft zu sein: In Großbritannien durchliefen wir gerade diesen Brexit-Quatsch. Und da ich viel Zeit im Internet verbracht habe, wurde mir bewusst, dass die Leute immer aggressiver, streitlustiger und rechthaberischer werden, dass alles immer schwärzer oder weißer ist, aber es kaum noch Dialoge oder Kompromisse gibt. Fast so, als ob die menschliche Evolution von dieser Technik namens Internet gestoppt würde – und die Trump-Regierung hat das Aggressive und Pessimistische noch auf die Spitze getrieben. Es ist schwer, optimistisch zu bleiben, wenn man mit dieser ganzen Negativität bombardiert wird. Was auch damit zu tun hat, dass wir große Probleme im Umgang mit all der Technik haben, dass wir nicht verstehen, worauf wir uns da einlassen – und den Preis dafür bezahlen. Ich lese das an der explosiven Entwicklung des Onlinehandels und der sozialen Medien ab, von der wir nicht wissen, wie sie uns als Menschen beeinflusst und prägt. Deswegen „The Future Bites“ – weil das keine positive Entwicklung ist.

eclipsed: Demnach ist dieses Album eine Gesellschafts- und Konsumkritik?

Wilson: Ja, wobei ich mich, was das Verhalten der Menschen angeht, aber nicht ausnehmen kann: Auch ich liebe es zu shoppen, gerade was Boxsets und Vinyl-Editionen betrifft. Gleichzeitig bin ich mir auch bewusst, wie heimtückisch die Industrie ist und dass sie uns schon so weit gebracht hat, dass wir mit großer Begeisterung Dinge erwerben, die wir eigentlich nicht brauchen – aus dem simplen Grund, dass wir shoppingsüchtig sind. Wir haben da eine Sucht entwickelt, die eigentlich völlig hirnrissig ist. Und die Musikindustrie ist da besonders durchtrieben: Sie setzt uns immer wieder neue Deluxe-Editionen von Musik vor, die wir schon mindestens drei Mal gekauft haben – als Original-LP, dann als CD-Version und als Deluxe-Ausgabe mit Bonus-Disc. Schließlich setzt sie noch einen drauf mit der großen, teuren 5-CD-Box mit Demos, Livematerial, Outtakes, der Blu-ray und dem 5.1-Mix. Damit verleitet sie uns, dasselbe noch einmal zu kaufen – obwohl das Meiste davon ungehört im Regal landet.

eclipsed: Denkst du, dein Publikum versteht den subtilen Humor in Songs wie „Personal Shopper“? 

Wilson: Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass er in meinen Stücken oft verkannt wird. Dabei ist er definitiv vorhanden – wenn auch in sehr schwarzer Form. Aber diesmal habe ich ihn so überzogen angelegt, dass wirklich jeder verstehen sollte, worum es mir geht. Und selbst wenn Leute anderer Meinung sind, sollten sie zumindest meine Intention erkennen – dass ich der Gesellschaft einen Spiegel vors Gesicht halte. Ich kritisiere nicht explizit, ich sage eher: „Das ist die Welt, die ich sehe. Erkennt ihr euch darin?“ Und durch den Auftritt von Elton John wird das hoffentlich noch offensichtlicher. Er ist ja der berühmteste Shopaholic der Welt, der diese Liste absurder Luxuskonsumartikel vorträgt, was ich irrsinnig witzig finde. Da muss ich ganz ehrlich sagen: Wer das nicht so empfindet, ist vielleicht nicht Teil meines Publikums.

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