Holger Czukay hat ein unvergleichliches Gesamtwerk hinterlassen. Nicht nur mit seiner Band CAN, mit der er seit 1968 Rockgeschichte schrieb, sondern auch mit großen Teilen seines Solowerks, mit dem er Stilistiken wie HipHop oder Techno den Weg bereitete. Doch kaum ist Czukay von uns gegangen, muss man sich allen Ernstes fragen, ob es ihn tatsächlich gegeben hat, oder ob er nur die Projektion des idealisierten Künstlers war. Bei aller technischen Finesse schien er der aussterbenden Spezies des Kunsterfinders anzugehören, der unter dem Dach vom Rest der Welt abgeschirmt Gigantisches ersinnt. Mit Samtmütze und Sichelbart hätte er einem Gemälde von Carl Spitzweg entsprungen sein können. Wenn man ihm begegnete, wusste man nie genau, ob er sich gerade in seiner Fantasie oder in der Wirklichkeit aufhielt. Die Pforten seiner Wahrnehmung waren stets weiter geöffnet als beim Rest seiner Umgebung.
Von Caterina Valente bis Dieter Bohlen
Holger Czukay hatte viele Geschichten zu erzählen. Er kokettierte mit einer Vergangenheit, die ihn immer wieder als Mischung zwischen Anarcho und Kauz herausstellte, und provozierte mit Zitaten wie „Ich hasse Musik“ oder „Die einzige deutsche Weltmusik ist Dieter Bohlen“. Seine kleinen, stechenden Augen leuchteten auf, wenn ihm derartige als Blitze getarnte Plattitüden entfleuchten. Doch seine originellen Geschichten von früher haben oft viel mehr mit der Gegenwart zu tun als mit der Vergangenheit. „Die erste Platte, die ich besaß, war [Caterina Valentes] ‚Ganz Paris träumt von der Liebe‘. Die habe ich mir aber nicht gekauft, weil dieses Lied drauf war, sondern weil die Rückseite ‚Wenn es Nacht wird in Paris‘ so sinister und dunkel klang. Damals wurde in den Programmzeitschriften jeder Titel, der gespielt werden sollte, ausgedruckt. Ich arbeitete als Schüler in einem Radiogeschäft. Samstag, 15 Uhr, war Schluss. Und genau 15:03 Uhr kam ‚Wenn es Nacht wird in Paris‘. Nun stellte ich alle Radiogeräte in dem Laden unheimlich laut, damit ich dieses Lied so laut hören konnte, wie ich mir das dachte. Ich weiß nicht einmal, von wem dieses Lied war, aber es hat mich bis heute geprägt.“
Czukay, am 24. März 1938 als Holger Schüring in Danzig geboren, wuchs mit Kirchenmusik auf und begann sich schon früh für die Musik von Anton Webern zu interessieren. Viel wichtiger wurde ihm aber sein Studium bei Elektronikpionier Karlheinz Stockhausen, mit dem er eng zusammenarbeitete. In Stockhausens Studio in Köln entstanden heimlich die ersten Aufnahmen der Band CAN, die er mit Irmin Schmidt, Jaki Liebezeit und Michael Karoli gegründet hatte und der er als Bassist zusammen mit Liebezeit ihr eigenwilliges Rhythmusgepräge verlieh. CAN stellten den Rock der späten Sechziger auf den Kopf, verzichteten auf die gängigen Rock’n’Roll- und Bluesschemata und orientierten sich viel stärker an Maßstäben von Minimal Music und Klangmanipulation und bezogen auch zusehends Weltmusik mit ein. Czukay selbst sah sich als Weltempfänger. Unablässig hantierte er mit Kurzwellenempfängern, um unerhörte Klänge aus den entlegensten Winkeln der Erde einzufangen.