MERCURY REV - Im Dienste der Romantik

26. November 2015

Mercury Rev

eclipsed: Die große Überraschung ist ja zunächst, dass es nach sieben Jahren überhaupt eine neue CD von Mercury Rev gibt. Anfänglich klingt sie ganz anders als frühere Platten von euch, aber bei jedem weiteren Hören kommt der Mercury Rev-Sound besser zum Tragen ...

Jonathan Donahue: Die Platte kam zu uns. Wir haben in den sieben Jahren seit der letzten CD unablässig gespielt und waren auf Tour. Aber wir leben in den Bergen und haben ein anderes Zeitgefühl als im Musikgeschäft üblich. Sieben Jahre sind in der Musikwelt eine Unendlichkeit. Für uns ist das jedoch gar nichts. Wir haben lange an der Platte geschrieben. Vor etwa anderthalb Jahren nahm sie Gestalt an. Wir gingen ins Studio, und was dann folgte, ging ganz schnell.

eclipsed: Wie habt ihr die Mercury-Rev-Trademark-Fallen vermieden?

Grasshopper: Man kann ja nicht komplett seine Identität ändern, aber man kann durchaus seinen Zugang zu den Dingen ändern, die man tut. Auf der einen Seite suchten wir nach einem sehr dichten Rhythmusgeflecht, um in harmonischer und klanglicher Hinsicht alles viel größer und leichter zu machen. Dadurch konnten wir viel mehr mit Sound-Details arbeiten, die wir durch monatelange Präzisionsarbeit in die Songs aufgenommen haben. Jeder Song ist für uns ein kleiner Film. Ein Teil unseres Lebens, der richtig dargestellt sein wollte.

eclipsed: Apropos Film. Die Assoziationsketten waren nicht leicht zu ziehen, denn einerseits entfaltet ihr diese Fantasy-Klangwelten, auf der anderen Seite habt ihr sehr alltagstaugliche Texte.

Jonathan Donahue: Diese Kombination aus Märchen und modernem Leben ist in unserer DNA. Jedes unserer Alben funktioniert wie ein Kinderbuch. Diesen Aspekt lieben wir, und er macht uns aus. Egal, ob wir Feedback einsetzen oder eine Oboe, es bleibt immer eine Art Kindergeschichte. Dieses Album hat viele dieser Momente, finden wir. Es ist ein hartes Stück Arbeit, diese Seite von uns in einem zeitgenössischen Kontext wirken zu lassen. Wir wollen nicht wie 1940 klingen, nur um unseren Songs eine Komponente von Zeitlosigkeit zu verleihen. Wir möchten Menschen von heute emotional erreichen. Nicht umsonst haben wir sieben Jahre gebraucht. Wir haben jeden Song wieder und wieder gehört, bis er funktionierte. Wir gehören nicht zu den Bands, die sich ständig in Erinnerung rufen müssen, aber wir wissen, wann es funktioniert.

eclipsed: Die Texte des Albums stehen ja oft in krassem Gegensatz zur Musik. Manchmal ist die Musik voller Glück und Leichtigkeit, aber die Texte sind desperat.

Jonathan Donahue: Das trifft insbesondere auf den Song „Central Park East“ zu. Der Central Park ist ein wundervoller, inspirierender Ort, für Siebenjährige genauso wie für Siebzigjährige. An solchen Orten kann es manchmal erschreckend sein, wenn man von etwas derart Schönem überwältigt wird, dass man keine Worte dafür findet. Wenn man mit etwas konfrontiert wird, das größer ist als man selbst, löst das meist ein ungestilltes Verlangen aus. Dann bewegt man sich zwischen zwei Polen, die oft mit Erfüllung und Angst zu tun haben. In dem Song geht es um jemand, der überall um sich herum Liebe sieht und sich fragt, wie die Liebe wohl auch zu ihm kommen mag.

eclipsed: Ist das nicht das generelle Konzept von Romantik?

Jonathan Donahue: Genau, denn in der Romantik geht es nicht um die Erfüllung der Liebe, sondern um die Sehnsucht nach Liebe, wenn man keine hat. Um Verlust und das Gefühl, selbst weniger zu sein als die Schönheit, die einen umgibt. Byron, Shelley oder Keats haben niemals darüber geschrieben, wie schön es ist, verliebt zu sein. Es geht immer um den Schmerz, von der Liebe abgeschnitten zu sein.

eclipsed: Basiert nicht die ganze Geschichte des Rock genau auf diesem Gefühl, denn letztlich kommt doch alles vom Blues?

Jonathan Donahue: Damit können die Menschen einfach mehr anfangen, denn es ist leichter, traurig zu sein als glücklich. Mehr noch, es fällt uns leichter, jemand anderes Traurigkeit zu teilen als dessen Glück. Ich glaube, der Central-Park-Song ist eine der besten Nummern, die wir je aufgenommen haben. Wenn morgen die Welt untergehen würde, wäre ich immer noch glücklich, dass wir zumindest diesen Song gemacht haben.

eclipsed: Seid ihr Romantiker?

Jonathan Donahue: Auf jeden Fall. Zumindest mehr als Rocker. Ich liebe Bing Crosby und Nat King Cole. Ich liebe auch die Ramones, aber die romantischen Balladen kommen schneller aus meinem Blutkreislauf als die Punk-Songs.

Mehr Informationen:
www.mercuryrev.com

Interview: Wolf Kampmann