1970 - Aufbruch im Trümmerjahr

10. August 2020

1970

1970 - Aufbruch im Trümmerjahr

Es war die Stunde Null nach den turbulenten 60s: Das Jahr 1970 gab den furiosen Startschuss in die Dekade des Rock. Als das letzte Kalenderblatt des Woodstock-Jahres 1969 abgerissen war, lagen die Träume der Generation Love & Peace bereits wie kaputtes Spielzeug am Boden. Denn so viel war klar: Mit allumfassender Liebe und bewusstseinserweiternden Drogen allein würde sich eine neue Gesellschaft nicht errichten lassen. Dennoch wirkten die Impulse der jugendlichen Rebellion weiter und veränderten allmählich die Kultur der westlichen Welt. Natürlich spiegelte sich all das auch in der noch jungen Rockmusik, die voller Abenteuerlust in die unterschiedlichsten Richtungen drängte. 1970 wurde zum Jahr des Aufbruchs und der neuen Gesichter.

Es war verdammt schnell gegangen: Dylan, „Pet Sounds“ und „Sgt. Pepper“, Woodstock, Altamont und Charles Manson – die 60s waren eine überdrehte Achterbahn gewesen, ein Schleudergang des Umbruchs, politisch und kulturell. Danach war kaum mehr etwas wie zuvor. Und laut waren sie: Die junge Rockmusik hatte die so aufgeregten wie aufregenden Zeitläufte mit nie gehörtem Getöse begleitet – vom schroffen Kinks-Riff in »You Really Got Me«, den bunten Klangfantasien, die bald darauf in der Abbey Road entstanden und von so unterschiedlichen Absendern wie den Beatles und Pink Floyd stammten, bis hin zu den majestätischen Suiten von King Crimson und der radikalen Dekonstruktion, der Jimi Hendrix die US-Nationalhymne unterzog; nicht zu vergessen die mäandernden Improvisationen der amerikanischen Westcoastbands und Jim Morrisons Schamanenspiele. 

Nun waren die 60er vorbei, und zurückgelassen hatten sie nicht nur jede Menge gesellschaftlichen Aufbruch, sondern auch eine musikalische Knetmasse, die sich in den Händen einer neuen Musikergeneration als überaus formbar erwies. Die Debütanten des Jahres 1970, darunter Black Sabbath, die Faces, Uriah Heep, Tangerine Dream, Supertramp, Hawkwind, ELP, Curved Air und Kraftwerk, würden dies unter Beweis stellen; auch Newcomer, die ein oder zwei Jahre zuvor aufgetaucht waren, etwa T. Rex, Yes, Led Zeppelin, Deep Purple, Free, Genesis, Crosby, Stills, Nash & Young, Joni Mitchell und Elton John, sollten nachhaltige Impulse setzen. 

Eine schwache Nation

Alte und neue Gesichter waren vom 26. bis 30. August 1970 auf der Bühne des wohl größten Festivals der Musikgeschichte zu sehen. Aber nicht nur wegen seiner musikalischen Highlights blieb das ISLE OF WIGHT FESTIVAL in Erinnerung. Es offenbarte auch die Befindlichkeit einer Gegenkultur, die immer öfter und durchaus schmerzhaft mit den Realitäten kollidierte. Wer den Pop und die Musik der Post-Pepper-Ära verstehen will, tut gut daran, einen Blick in die Seele der Generation Woodstock zu werfen, die sich in jenem Sommer 1970 noch am Ziel ihrer Träume wähnte, die tatsächlich längst geplatzt waren. 

Ein paar Monate zuvor hatte Joni Mitchell die Ereignisse in Woodstock, die sie nicht selbst miterlebt hatte und sich von ihrem Freund Graham Nash berichten ließ, mit den Songzeilen verklärt: „By the time we got to Woodstock, we were half a million strong and everywhere there was song and celebration.“ Das Märchen von Max Yasgurs Farm hatte sich auch in der Alten Welt herumgesprochen: Der Woodstock-Film und das dazugehörige Album waren im Frühling 1970 veröffentlicht worden, und Mitchells Song »Woodstock« befand sich im Spätsommer in der Version der britischen Folkrockband Matthews Southern Comfort auf dem Weg an die Spitze der UK-Charts. Kein Wunder also, dass Ende August Schätzungen zufolge etwa 600.000 Freaks auf die vor der englischen Südküste gelegene Isle of Wight pilgerten, denn dort, nahe dem Dörfchen Freshwater, stand das europäische Woodstock auf dem Programm. 
Die Stimmung war bestens. Man war gekommen, um den eigenen Lebensstil zu feiern.

Vor Ort ließ ein Besucher den Filmemacher Murray Lerner wissen: „All diese Menschen zu sehen, Hunderttausende, die alle dieselbe Lebensauffassung haben, das gibt dir Vertrauen und den Mut weiterzumachen.“ Ein anderer berichtete, dass er „mit den Bäumen spreche“, dazu lächelte er entrückt und empfahl dem Regisseur, „die Plastikgötter“ zu filmen, „die Musiker, die 80.000 Pfund mitnehmen“: „Sie sind die neuen Heiligen.“ Womit er in seiner Euphorie den wunden Punkt des Unternehmens traf: Das Ganze war eine kommerzielle Veranstaltung. Und auch wenn der Eintritt für die Monstersause nur verhältnismäßig bescheidene 3 Pfund betrug, entzündete sich daran eine Kontroverse, die nicht wenigen auf der Kanalinsel nachhaltig den Spaß verderben sollte. Denn so manchem dämmerte, dass er auf den sanften Hügeln der Isle of Wight nicht nur entspannten Hippies begegnete, sondern auch dem höchst unromantischen Phänomen des Popkapitalismus und seiner neureichen Aristokratie ...

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