Was bringt einen modernen Musiker des 21. Jahrhunderts dazu, sich mit gut 500 Jahre alter Lyrik über Jahre hinweg intensiv zu beschäftigen? Derart intensiv, dass diese Poesie als ausschließliche Inspirationsquelle für sein neues Album dient? „Ganz einfach“, lacht Vittorio Nocenzi, der sich diesen vermeintlich anachronistischen Schuh angezogen hat: „Das Zeug ist grandiose Literatur. Und weist einige Parallelen zu Themen der Gegenwart auf.“ Nocenzi ist das einzig verbliebene Gründungsmitglied der Italo-Prog-Legende Banco Del Mutuo Soccorso, deren selbstbetiteltes Debütalbum vor exakt einem halben Jahrhundert in den Handel kam. Der 1951 in der Nähe von Rom Geborene (wo er bis heute zu Hause ist) klemmt sich seit jeher hinter die Tasteninstrumente. Vor allem aber ist der redselige Vittorio Haupttexter des Sextetts, der sich gern komplexe Themen für seine Lyrics aussucht.
Das „Objekt der Begierde“ ist dieses Mal ein 1516 erstmalig erschienenes Epos, das in der deutschen Ausgabe „Der rasende Roland“ betitelt ist und aus nicht weniger als 38.576 Versen besteht. „Noch nie davon gehört?“, fragt Nocenzi. „Dann gilt es dringend, sich dieses Juwel der Literaturgeschichte ins heimische Wohnzimmer zu holen und es voller Inbrunst zu lesen! Man bereut die Lektüre nicht.“ Autor des „Orlando furioso“, wie das Werk im Original heißt, ist Ludovico Ariosto. Der Mann war nicht nur ein Sprachgenie, sondern auch gesegnet mit überbordender Fantasie. „Wer kann schon von sich behaupten, dass in einem einzigen Buch diverse christliche, muselmanische und heidnische Könige sowie Ritter vorkommen“, hält Vittorio Nocenzi fest ...