Man weiß: Ohne die Beatles wäre die Topographie der populären Musik eine andere. Zwar hat das auch jede Menge mit dem Umstand zu tun, dass die vier Liverpooler – ein Quartett wie gemalt für die optimistischen und innovationsfreudigen Sixties – zur rechten Zeit am rechten Ort, nämlich in London, waren und damit zu strahlenden Ikonen einer Dekade aufsteigen konnten, deren Errungenschaften unsere Welt bis in die Gegenwart hinein geprägt haben. Viel, vielleicht sogar sehr viel mehr aber hatte das zu tun mit dem einzigartigen musikalischen Talent, das sich in den Beatles bündelte und dem in Gestalt von George Martin ein genialischer Produzent zur Seite stand, der noch dazu über das beste Tonstudio verfügte, das im Königreich zu finden war.
Tatsächlich haben die Beatles mit einem beinahe vollkommenen Werk innerhalb weniger Jahre die Popmusik quasi neu erfunden. Die wohl entscheidenden Jahre dieses Wirkens sind die von 1965 bis 1967, markiert durch die Alben „Rubber Soul“ und „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“. Es waren die Jahre, in denen die Beatles den Popsong von seinen thematischen Limitierungen befreiten, ihm die ganze Welt der europäischen Musiktradition – vom Chanson bis zur Klassik – und dazu gleich noch den Kosmos der indischen Musik eröffneten, in denen sie das Tonstudio zu einem eigenen Instrument ihrer Kreativität weiterentwickelten und nicht zuletzt dem Album den Weg als neues Leitmedium der Popmusik bahnten. Mehr geht nicht. Und wenn sich all dies in einem einzigen Album spiegelt, dann ist es jenes, das hier verhandelt wird – „Revolver“.
Nr. 1 per Dienstanweisung
April 1966: Fast vier Jahre ist es her, dass die Beatles als unbeschriebene Blätter und Szenenovizen in London aufgetaucht sind und dort ihre erste Aufnahmesession für EMI absolviert haben. Seitdem haben sie einen märchenhaften Aufstieg hinter sich gebracht: Neun Nr.-1-Singles in Folge haben sie in den UK-Charts platziert, ebenfalls neun sind es seit ihrem dortigen Durchbruch im Februar 1964 drüben in den USA. Dazu haben alle sechs Alben die Spitze der Charts erobert, derweil die Band weltweite Konzerttourneen unternommen und zwei abendfüllende Spielfilme gedreht hat. Nie zuvor war ein Act der populären Musik erfolgreicher. Ein einzigartiger Triumphzug, der in die Annalen eingeht als Beatlemania.
Es ist ein harter Job, ein Beatle zu sein. Spätestens seit ihrem ersten Top-Ten-Hit „Please Please Me“ etwas mehr als drei Jahre zuvor ist die Band mehr oder weniger rund um die Uhr damit beschäftigt, die explodierende Nachfrage nach Interviews, Fototerminen und Fernsehauftritten zu befriedigen. Vor allem aber das stetige Verlangen nach neuer Musik. Pausen hat es nur für wenige Tage zwischendurch mal gegeben, mehr als zwei Wochen pro Jahr sind nicht drin. Ihr Terminkalender ist chronisch überfüllt. Plattenaufnahmen waren bislang meistens nur in denn kurzen Lücken zwischen anderen Verpflichtungen möglich. Da sind die acht Wochen Zeit, die nun für das Schreiben und die Produktion des neuen Albums vorgesehen sind, geradezu fürstlich bemessen. Genau genommen sind sie ein Novum im Popbetrieb, bislang musste so etwas deutlich schneller gehen. Aber wenn sich einer diesen Luxus erlauben kann, dann die Beatles. Allerdings: Alle Welt wartet auch auf eine neue Single, die – was sonst?! – wieder auf Platz 1 schießen soll. „We Can Work It Out“/„Day Tripper“ war schon zu Weihnachten 1965 erschienen und ist damit Schnee von gestern. Die EMI-Geschäftsführung hat bereits eine entsprechende Dienstanweisung an George Martin geschickt. Am 24. Juni soll alles, Album und neuer Nr.-1-Hit, im Kasten sein, denn dann wird die Sommerwelttournee der Beatles mit zwei Konzerten in München starten.
Der Druck ist also gewaltig, auch oder vielleicht gerade für die erstaunlich jungen Beatles: Als die Sessions für „Revolver“ an jenem 6. April in No. 3 Abbey Road beginnen, ist John Lennon 25, ebenso wie Ringo Starr, Paul McCartney noch 23 und George Harrison als Jüngster des Quartetts soeben erst 23 Jahre alt geworden. Wenn die Beatles ihren Status als größte Band der Welt behalten wollen, müssen sie auf das schwindelerregend hohe Niveau ihres letztjährigen Albums „Rubber Soul“ noch eins draufsetzen. Die Konkurrenz schläft schließlich nicht, etablierte Gruppen wie die Rolling Stones und The Who liefern verlässlich Hitsingles, neue Namen wie Small Faces und Spencer Davis Group sorgen für frischen Wind in den Charts.