MARILLION - 30 Jahre „Misplaced Childhood“

27. Mai 2015

Marillion

Der Startpunkt des Albums, das alles veränderte und ohne das laut Keyboarder Mark Kelly „Marillion in der jetzigen Form nicht mehr existieren würden“, ist im Spätsommer ’84 zu suchen: Nach der kräftezehrenden „Fugazi“-Tour nahmen Marillion zunächst eine zweimonatige Auszeit. Zwar skizzierten sie hier und da erste Ideen für ein neues Album, insgesamt nutzten sie diese Phase jedoch, um Kraft für die bevorstehenden Aufgaben zu tanken. Und die hatten es in sich. Die Band hatte Wind davon bekommen, dass ihr Label EMI mit dem Gedanken spielte, das Vertragsverhältnis mit ihnen zu beenden. Die Verantwortlichen dort waren unzufrieden, dass die hohen Investitionen ins zweite Album nicht zu den erwünschten Verkaufszahlen geführt hatten. Tatsächlich war „Fugazi“ in England sogar ein paar tausend Mal weniger verkauft worden als „Script For A Jester’s Tear“, das rund 120.000 Mal über den Ladentisch ging.

Aus heutiger Sicht für eine Newcomerband eine astronomisch hohe Zahl, erwartete ein Global Player wie EMI in den 80er-Jahren deutlich größere Absatzmengen. „Ich weiß, dass dieses Gerücht herumging“, bestätigt Fish, „aber ich habe da nicht so viel drauf gegeben. Wir waren als Liveband sehr überzeugend und daher in der Lage, immer wieder neue Fans zu gewinnen. Für mich stand daher außer Frage, dass EMI mit uns weitermachen würde. Sie versuchten lediglich, uns stärker unter Druck zu setzen: Sie wollten unbedingt eine Hitsingle und schickten später wiederholt ihre Spione zu den Aufnahmesessions in Berlin vorbei. Die waren aber selbst ziemliche Partytiere, so dass sie lieber mitfeierten und ihren Chefs zuhause in England erzählten, alles sei cool und könne ruhig so weiterlaufen. Dabei konnten sie sich garantiert nicht an das Gehörte erinnern.“

Die Erinnerung von Marillions Gitarrist Steve Rothery indes ist eine andere: „Ich denke, die Chancen für eine Vertragsauflösung standen 50/50, und die Plattenfirma übte schon recht viel Druck aus. Gerettet hat uns wohl der Erfolg des Livealbums ‚Real To Reel‘, das 1984 während der Proben für das neue Album erschien. Wir ließen uns aber nicht beeindrucken und gingen ‚Misplaced Childhood‘ ohne kommerzielle Absichten an.“ Dies unterstreicht auch Fish: „So viel ich schimpfe, muss ich zugeben: EMI hat uns nie reingeredet, als erst mal klar war, dass wir die Platte aufnehmen durften. Gut, wir verschwiegen ihnen auch recht lange, dass es ein Konzeptalbum werden sollte…“

Alle bei Marillion waren überzeugt, dass eine Progressive-Rock-Band, die auf sich hält, in ihrer Karriere mindestens ein Konzeptalbum vorlegen muss. So waren sie sich einig, mit ihrem dritten Album eine zusammenhängende Geschichte erzählen zu wollen. „Das kam uns auch sehr entgegen“, so Rothery schmunzelnd. „Wir hatten immer das Problem, das Ende eines Songs zu komponieren. Da die neuen Stücke ineinander übergehen sollten, war dieses Problem gelöst.“ Ein Konzeptalbum zu schreiben war für Mark Kelly allerdings auch die selbstbewusste Reaktion auf die Forderung ihrer Plattenfirma nach einer Hitsingle: „Wir waren genervt, weil sie immer einen großen Hit von uns verlangten. Die relativen Charterfolge von ‚He Knows You Know‘ oder ‚Punch And Judy‘ waren ihnen längst nicht genug. Was also Besseres machen, als ein Konzeptalbum aufnehmen, wo alle Songs ineinander übergehen und man beim besten Willen keine Single finden kann?! Wir zeigten ihnen den Mittelfinger. Inzwischen denke ich, dass das gehörig in die Hose hätte gehen können.“

Lesen Sie mehr im eclipsed Nr. 171 (Juni 2015).