ASTARTA / EDWIN - Ungewöhnliche Liaison mit zwei ukrainischen Damen

Schon bevor Porcupine Tree auf Eis lagen, hat Bassist Colin Edwin einige musikalische Projekte nebenbei am Start gehabt. Seitdem die Band aber in ihre inaktive Phase gewechselt ist, also seit 2010, häufen sich auch bei dem gebürtigen Australier die Aktivitäten. Da steht er Bandleader Steven Wilson in nichts nach: Mit den Bands Random Noise Generator, Metallic Taste Of Blood und O.R.k. widmet er sich modernen Visionen des progressiven Metals. Bei den Ex-Wise Heads versucht er sich an nordafrikanischer Folklore. Als Endless Tapes oder Burnt Belief und bei Gemeinschaftsalben mit den Gitarristen Jon Durant oder Lorenzo Feliciato spielt er eine ambiente Mischung aus dezentem Artrock und ebenso dezentem Jazz. Von seinen Soloalben ganz zu schweigen.

Nun betritt Edwin aber für ihn neues Terrain. Unter dem Namen Astarta/Edwin ist unlängst ein Gemeinschaftsalbum mit dem ukrainischen Gesangsduo Astarta erschienen. Astarta wurde 2009 gegründet und besteht aus den beiden Sängerinnen Inna Sharkova und Yulia Malyarenko. Osteuropäische Folklore, insbesondere die aus ihrer Heimat Ukraine, teilweise mit selbstgeschriebenen Texten, bestimmt das Repertoire von Astarta. Dabei haben die beiden noch keine großen Spuren im Musikbusiness hinterlassen. Auftritte bei verschiedenen Festivals in der Ukraine, in Polen und in Russland stehen zu Buche. Aber selbst das Internet weiß nicht viel. Eine eigene Website fehlt ebenso wie ein Wikipedia-Eintrag. Lastfm hat ein bisschen was zu bieten.

Da ist es fast verwunderlich, dass Colin Edwin überhaupt mit Astarta in Kontakt gekommen ist. „Ich habe die Band das erste Mal gehört, als ich 2012 mit den Ex-Wise Heads in Kiew ein Konzert gespielt habe. Obwohl ich mich überhaupt nicht mit osteuropäischer Folkmusik auskannte, war ich sofort von dem unverkennbaren und fesselnden Gesangsstil von Astarta beeindruckt.“ So beeindruckt, dass er nicht lange überlegen musste, als es um eine Zusammenarbeit mit Sharkova und Malyarenko ging: „Es war für mich wirklich eine lohnende und faszinierende Erfahrung. Die Stücke, an denen wir gearbeitet haben, sind sowohl stimmungsvoll, mysteriös als auch geerdet, rau und sogar humorvoll.“

Mit Edwins bisherigem musikalischen Schaffen im Hinterkopf ist das Astarta/Edwin-Debütalbum genau das geworden, was man als Symbiose dieser beiden musikalischen Kulturen erwarten und auch erhoffen durfte. In den zwölf Songs stehen eindeutig die beiden Stimmen von Inna Sharkova und Yulia Malyarenko im Zentrum. Meist singen beide zugleich genau dieselben Texte und Melodien, dennoch sind die Stimmen jederzeit klar voneinander zu trennen. Dafür sorgen die unterschiedlichen Stimmfarben und die minimal versetzten Einsätze. Dazu legt Edwin immer wieder seine markanten und mittlerweile unverwechselbaren Bassgrooves auf dem bundlosen Bass hin. Sein Spiel erinnert frappierend an die große Bass-Legende Mick Karn. Wer besonders die von Porcupine Trees „Up The Downstair“, „Moonloop“ oder „Hatesong“ bekannten Basslinien schätzt, wird mit Astarta/Edwin seine helle Freude haben. Doch das ist bei Weitem nicht die einzige musikalische Begleitung: Dezente Keyboardflächen sorgen für Volumen. Diffizile Drumloops erzeugen eine mitunter komplexe Rhythmik. Und mehr noch: Edwin hat weitere, durchaus prominente Gastmusiker hinzugeholt. Allen voran King-Crimson-Schlagzeuger Pat Mastelotto, der auf drei Stücken die Drums spielt. Auch der von no-man bekannte Violinist Steve Bingham veredelt vier Titel. Edwins Burnt-Belief-Partner Jon Durant spielt Gitarre.

Gleich der Opener „Pid Yalinoyu“ beginnt mit Edwins bekanntem Basssound. Es grummelt. Erst eine Frauenstimme, dann die zweite, mit deutlichem Folk-Charakter. Ein wenig Synthie, ein bisschen Violine, eingängige Melodien im Gesang, ein flotter Groove. Fertig ist ein „alternativer ukrainischer Pop“. In „Kalina“ trifft erst mal die urbane Hektik – erzeugt von Bass und Drumloops – auf osteuropäische Folklore inklusive eines schwebenden Instrumentalteils, in dessen Verlauf die langen Bassnoten ein Solo formen. Während „Oy U Lisi“ die Frauenstimmen klar in den Mittelpunkt rückt, gesellt sich in „Orel“ eine Männerstimme hinzu. Der einfache marschierende Groove verleiht dem Song ein gewisses Disco-/Pop-Feeling, trotz eines Artrock-Gitarrensolos.

„A V Nashogo Shuma“ ist dann ein Fest für Colin-Edwin-Fans: lange Bassnoten, gute Loops und Grooves. In „Vesnyanochka“ wird es melancholisch, ja fast schon traurig. Die Violine in „Kupala“ wiederum ist zuckersüß – gewiss zu süß für manche Ohren. Immer wieder gibt es einige kleine Piano-Spielereien. In „Troica“ versuchen sich Inna Sharkova und Yulia Malyarenko für wenige Augenblicke gar an einem Rap: So zart und lieblich, mit diesen für die westlichen Hörgewohnheiten ungewohnten Lauten hat man einen Rap indes ganz selten gehört – wenn überhaupt. Das abschließende „Cascade“ ist aus Artrock-Sicht gewiss am interessantesten: Streicher, die Stimmen nur als Klangfarbe, dezente Grooves. Das kommt dem ambienten Jazzrock des Trios Jansen/Barbieri/Karn recht nahe. Der doch durchweg ethnische Charakter der elf vorherigen Songs fehlt hier völlig. Am Ende steigern sich die Violine und die Gitarre mit ihren Soli in ein – wenn nicht gar: das – Highlight des Albums.

Colin Edwin hat das Album arrangiert, produziert und abgemischt. Seine Arbeitsweise an den Astarta-Stücken beschreibt er folgendermaßen: „Ich habe mich nicht um die Inhalte und die Interpretation der ukrainischen Texte gekümmert, sondern ihren lyrischen Inhalt bewusst ignoriert. Die ukrainische Sprache ist nach wie vor ein Rätsel für mich. Es ging mir stets darum, den beiden Gesangsstimmen ein ansprechendes musikalisches Umfeld zu bieten. Nachdem ich mich mit so viel instrumentaler Musik beschäftigt hatte, war das ein aufschlussreicher Kontrast, mit Gesang und richtigen Songs zu arbeiten.“

Auf technischer Seite wird es wahrscheinlich nicht zu gemeinsamen Stunden im Studio gekommen sein. So steht doch in den Credits, dass der Gesang in Kiew aufgenommen wurde, während Colin Edwin all seine Beiträge in England einspielte. Steve Bingham ebenso. Pat Mastelotto nahm die Drums in den USA auf. Jon Durant war ebenso jenseits des Atlantiks tätig. Es wurde also gewiss jede Menge Filesharing zwischen den Kontinenten betrieben.

Von einer richtigen Band kann man also kaum sprechen. Ob es ein Projekt wird, von dem zukünftig noch mehr Output zu erwarten ist, bleibt offen. Zu wünschen wäre es, denn eine Vermischung von westlichen Grooves mit osteuropäischer Folkmusik ist zwar schon seit vielen Jahren nichts Ungewöhnliches mehr, aber wie hier geboten doch eine Seltenheit. Immerhin haben es Astarta und Colin Edwin zu gemeinsamen Auftritten geschafft, die allerdings schon drei Jahre her sind und in der Zeit vor den Aufnahmen zum Album stattfanden: Im Juli 2013 beim Krayina Mriy World Music Festival in Kiew und im Oktober 2013 beim ersten ukrainischen Kulturfestival „Days Of Ukraine“ in London.

*** Bernd Sievers