60 Jahre THE ROLLING STONES - Der Dartford-Faktor

5. Oktober 2022

The Rolling Stones

60 Jahre THE ROLLING STONES - Der Dartford-Faktor

Sie füllen noch immer die Stadien der Welt, zuletzt standen sie im Sommer auf der altehrwürdigen Berliner Waldbühne. Seit sage und schreibe 60 Jahren gelten die Rolling Stones als Prototyp einer Rock’n’Roll-Band – unverwüstlich, maximal erfolgreich und künstlerisch kredibel. Ein einzigartiges Phänomen, das Fragen aufwirft. Zum Beispiel diese: Was haben die Stones, das all die anderen Bands nicht haben? Die Antwort ist so kurz wie komplex: alles. Standvermögen natürlich. Sex. Gute Songs. Einen einzigartigen Sänger. Und die Zeit, die auf ihrer Seite war. Was blieb ihr auch übrig: Die Rolling Stones hatten all das, aber eben noch so vieles mehr, das braucht, wer unsterblich werden will. 

Winter 1963. Noch ahnt kein Mensch, was aus diesem verlorenen Haufen pickeliger Herumtreiber werden soll. Aber sie sind beseelt von ihrer Mission. Brian Jones, Bandgründer und treibende Kraft, Chefideologe, Musiklehrer für den Rest und nicht zuletzt geschickter Opportunist sowie verschlagener Karrierist in Personalunion, sagt später: „Am liebsten wären wir mit Transparenten durch die Straßen gezogen, um die Leute zum Blues zu bekehren.“ Das wollen andere auch. Von denen aber weiß keiner, dass das nicht reichen wird. Die Rolling Stones, zu diesem Zeitpunkt noch ohne jede Lobby in Londoner Kellern und Hinterzimmer-Pubs unterwegs, wissen das zwar auch nicht, aber sie verfügen schon da über die nötigen Instinkte. Und die werden sie bald schon zu den richtigen Entscheidungen führen. 

Etwa in Sachen Bandbesetzung. Der harte Kern – neben Jones sind das Mick Jagger, Keith Richards und Ian Stewart – sucht lange nach einer passenden Rhythmusgruppe. Was den Job hinterm Schlagzeug angeht, hätten sich andere mit Tony Chapman oder Mick Avory zufriedengegeben. Beide haben schon mit der Band geprobt. Jagger, Jones & Co. aber spüren, dass es für ihre Idee des Blues jemanden braucht, der neben solidem Handwerk auch über intuitives Verständnis für diese Musik und ihre Kultur verfügt. So landen sie bei Charlie Watts, einem reservierten Jazzfreak, der seinen Kenny Clarke und Chico Hamilton draufhat und weiß, dass der Backbeat nur rollt, wenn er swingt – welcome the Wembley Whammer! Bei der Wahl des Bassisten indes kommt erstmals der ausgeprägte Pragmatismus der Gruppe ins Spiel. William Perks, der sich Bill Wyman nennt, beschert der kümmerlichen Bandausrüstung mit seinem für damalige Verhältnisse sündhaft teuren Vox AC30 ein sattes Plus an Punch und Zuverlässigkeit. Das gibt den Ausschlag für seine Verpflichtung.  

Auftritt Andrew „Loog“ Oldham. Dreister Macher, arroganter Hipster und monströs selbstbewusster Schnösel. Gerade 19 und schon mit allen schmutzigen Themsewassern gewaschen, die Sorte, die kalt lächelnd die eigene Großmutter verkauft. Als er die Blues-Jünglinge im April 1963 in Richmond aufstöbert, fackelt er nicht lange: Hobbymanager Giorgio Gomelsky wird ausgebootet, Decca in Gestalt des A&R-Chefs Dick Rowe, der ein Jahr zuvor die Beatles abgelehnt hat, gehijacked und zu einem Vertrag mit beispiellosen Freiheiten für die Newcomer gezwungen. Und dann der Geniestreich: Alle lieben die Beatles? Okay, dann sollen die Stones eben alle hassen! Oldham weiß, dass die kleinen Mädchen sie umso mehr anhimmeln werden. Die Rechnung geht auf. Und als der hyperaktive Svengali seine Schützlinge Jagger und Richards mit sanftem Druck in ein Songwriter-Team verwandelt, das mit „(I Can’t Get No) Satisfaction“ einen Welthit ausbrütet, ist es geschafft: Die Stones haben sich in der ersten Reihe des britischen Beat-Booms etabliert. Mehr noch, neben den Beatles sind sie die Gesichter einer die Jugend der Welt elektrisierenden Idee namens Pop.

Sexy Chartgold

Warum die Stones und nicht eine andere, womöglich bessere Band jener Jahre? Zunächst: Jagger & Co. haben das perfekte Timing. Sie tauchen auf, als das Feld noch weitgehend unbestellt ist. Konkurrenten wie Animals, Them und The Pretty Things folgen auf dem Plattenmarkt erst sechs bis zwölf Monate später. Im Unterschied zu denen haben die Stones das Format, über die familiäre Londoner Bluesszene hinauszuwachsen und ihre Musik zu öffnen. Anders als andere haben sie ein intuitives Gespür dafür, wie man puristischen Chicago Blues in reines Chartgold verwandelt. Zum Beispiel „Little Red Rooster“: Die Band inszeniert den Song mit heiligem Ernst und doch auch jugendlichem Enthusiasmus, wobei sie das Ganze mit einer Wagenladung adoleszentem Sex auflädt – eine Mischung, die den Stones noch reichlich Rendite bescheren wird. 

Ein weiterer Umstand begünstigt den Durchmarsch: Wie niemand sonst, auch nicht das Beatles-Management, begreifen Oldham und seine Schützlinge, dass sich der biedere englische Medienbetrieb jener Jahre mit ein wenig kalkulierter Aufregung beliebig manipulieren lässt. Brav springt die Presse über jedes Stöckchen, das Oldham ihr hinhält. Hier eine schicke Headline („Würden Sie Ihre Tochter mit einem Rolling Stone ausgehen lassen?“), dort eine Lappalie, die zum Skandal aufgeblasen wird – niemand ist so konstant in den Headlines wie die Stones. Kein Sänger polarisiert mehr, keine Band wird so geschickt skandalisiert, und keine, abgesehen von den Beatles, liefert zuverlässiger brillante Top-Ten-Singles, die obendrein kaum je ihre Erfolgsformel wiederholen. Vor allem aber: Die Stones muss man sehen. Niemand verkörpert überzeugender den rebellischen Geist der jugendlichen Subkultur, die sich in jenen Jahren rasend schnell zum Mainstream und damit zum brummenden Konsummotor entwickelt. Folglich verfügen die Londoner Mitte der 1960er-Jahre über eine nibelungentreue Fangemeinde, die, mehr noch als bei den Beatles, neben weiblichen Teenagern auch Heerscharen von jungen Männern umfasst. Kurzum: Dieser archetypischen Pop-Gang kann keiner das Wasser reichen. 

Dabei haben sie gerade erst angefangen. Im „Sgt. Pepper“-Jahr 1967 zeigt sich, dass diese Rolling Stones auch von Zampano Oldham nicht an die Leine zu legen sind. Jagger und Richards sind längst nicht mehr die folgsamen Zöglinge, die sie ohnehin kaum je waren. Der so genialische wie sprunghafte Manager hat fertig. Man trennt sich. Noch ist Mick Jagger aber nicht so weit, dass er die Kontrolle komplett übernehmen kann. Hinter seinem Rücken kann Oldham noch die Rechte am Stones-Katalog an den berüchtigten Allen Klein verscherbeln. Und es wird dauern, bis Jagger dessen betrügerisches Finanzmanagement durchschaut. Künstlerisch aber hat der Sänger längst das Heft in der Hand. Brian Jones dagegen ist raus, er hat sich als zu fragil erwiesen. Während der Bandgründer zum Klotz am Bein wird, gewinnt Richards zunehmend an Statur. Spätestens, als die Stones 1968 den jungen Produzenten Jimmy Miller ins Boot holen und mit „Jumpin’ Jack Flash“ sowie dem grandiosen Album „Beggars Banquet“ ihre kreativste Phase einläuten, ist die treibende Achse Jagger/Richards fest installiert. 

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