Hans Lundin, Gründer und Chef der schwedischen Progger Kaipa, stand vor genau 60 Jahren erstmals auf der Bühne. Gerade hat er das 15. Kaipa-Album am Start. Wie alle davor klingt auch dieses, als wäre hier eine aufstrebende Band am Start, die vor musikalischen Ideen nur so überschäumen. Was ist sein Geheimnis, dass er als Mitsiebziger immer noch so unverbraucht rüberkommt? Dies und viele andere Fragen hat er uns im Interview beantwortet.
eclipsed: Du gehst mit Kaipa ins unglaubliche 51. Jahr, und „Sommargryningsljus“ ist das 15. Kaipa-Album. Wie kann das immer noch so frisch und voller Ideen und Träume klingen? Was ist dein Geheimnis, dein Jungbrunnen-Rezept?
Hans Lundin: Ich setze mich nie hin und versuche, Musik zu schreiben. Die Melodien klopfen quasi an meine Tür, mit der Bitte, dass ich mich um sie kümmere. Es ist ein ganz spezielles Gefühl, wenn eine Melodie scheinbar aus dem Nichts in mein Bewusstsein dringt. Oft ist es dann ein langer Weg von einer kleinen Tonfolge zu einem fertigen Stück. Meist mache ich immer wieder kleine Anpassungen in den Arrangements, bis es Zeit zum Aufnehmen wird. Aber ich entscheide nie im Voraus, wie ein Song sein sollte. Stücke zu schreiben ist für mich eine aufregende und unvorhersehbare Reise. Manchmal ist es nur eine kleine Exkursion, die in ein Liedchen mündet. Aber oft trägt mich meine Vorstellungskraft auf einen größeren Trip – dann entstehen prächtige Longtracks. Dieses Mal zum Beispiel hatte ich alle Songs für das Album bereits geschrieben, und die Gesamtspielzeit betrug 70 Minuten. Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Ich nahm gerade etwas mit unserer Sängerin Aleena Gibson auf. In einer Kaffeepause in meinem Garten begann sie plötzlich, ein paar Töne zu singen, und ich sagte, das sei wunderbar. „Dann lass uns doch ein Lied schreiben“, antwortete sie. Also gingen wir wieder zurück ins Studio, und 15 Minuten später war ein neuer Song geboren. Wir waren beide begeistert von dem Ergebnis und der Ansicht, er müsse unbedingt noch aufs Album, und zwar mit schwedischen Lyrics. Ich bastelte weiter an dem Stück und schrieb ein Interlude dazu, basierend auf denselben Akkorden. Die Melodie dazu landete elegant in meinen Fingern, als ich zu spielen begann. Eines frühen Morgens, ein paar Wochen später flatterten dann die Worte dafür in mein Bewusstsein. Ich entschied, das Stück in zwei Teile zu teilen: in „Sommarskymningsljus“ (Sommersonnenuntergang) für den Opener und „Sommargryningsljus“(Sommersonnenaufgang) fürs Finale. Das war für mich absolut schlüssig, denn viele der anderen Songs, so wurde mir nun klar, handelten ebenfalls von dem einen oder anderen. Ein Stück zum Beispiel, „Chased By Wolfes And Burned By The Sun“, spielt tief in der Nacht, wenn du nicht einschlafen kannst. Mit ein paar Änderungen an der geplanten Song-Reihenfolge war auf diese Weise plötzlich eine musikalische Reise von Sonnenunter- zu Sonnenaufgang entstanden, obwohl das mit dem Schreiben der Songs gar nicht beabsichtigt gewesen war.
eclipsed: Sonnenaufgänge scheinen eine große Bedeutung für dich zu haben. Jedenfalls kommst du in deinen Songs immer wieder auf dieses Thema zurück. Woran liegt das? Ist das vielleicht verbunden mit einer bestimmten Kindheitserinnerung? Und siehst du heute anders auf diese Naturphänomene als zu früheren Zeiten?
Lundin: Du hast recht, ich habe in der Tat schon auf dem ersten Album den Sonnenaufgang thematisiert. Er ist immer etwas Besonderes, der Moment, in dem sich in einem Buch eine neue leere Seite öffnet und ein neues Kapitel im Leben beginnt.
eclipsed: Natur ist ganz generell auch ein wichtiges Thema für dich. Was bedeutet sie dir? Wie beeinflusst oder inspiriert sie deine Musik?
Lundin: Nichts ist vergleichbar damit, Natur in all ihrer Pracht zu erleben, in ihr spazieren zu gehen oder zu radeln und dabei all die visuellen Impressionen real und im Hier und Jetzt aufzunehmen. In dem Song „Like A Serpentine“ vom Album „Children Of The Sounds“ von 2017 erzähle ich zum Beispiel von meinen Eindrücken einer Fahrradfahrt in der Umgebung meiner Heimatstadt Uppsala. Ich werde oft davon inspiriert, Natureindrücke in Musik zu transformieren. Meist ist das Ergebnis aus naheliegenden Gründen besonders schön, bisweilen aber auch verhängnisvoll oder dramatisch.