Ein androgyn aussehender, exzentrisch gestylter Mann kniet vor seinem wie im Rausch spielenden Gitarristen und simuliert mit den Gitarrensaiten eine Fellatio. Dieser Bühnenmoment von David Bowie alias Ziggy Stardust und Mick Ronson ist der wohl berühmteste des Glamrock, zeigt er doch die sexuelle Spannung, die Extravaganz, das Grelle, das Unberechenbare, aber auch den großen Spaß, den diese musikalische Bewegung ausmacht. Glam dominierte die Popwelt der Jahre 1971 bis 1974 – in kommerzieller wie auch in kultureller Hinsicht –, doch Glam wurde lange Zeit auch wie ein pophistorisches Schmuddelkind behandelt. eclipsed möchte dagegen angehen und erzählt die Geschichte des Glam samt ihrer Ikonen Marc Bolan/T.Rex und Bowie mit und seiner wegweisenden Figur Ziggy Stardust.
Was genau machte den Glamrock während seiner Hochphase in der ersten Hälfte der 70er Jahre überhaupt aus? Wer gehörte der Bewegung an? Und welche Charakteristika durften einem echten Glam-Musiker nicht fehlen – der richtige Sound, das extrovertierte Styling, die Superstar-Attitüde, um nur einige zu nennen? All diese Fragen sind nicht so leicht zu beantworten. Der Pop-Historiker Simon Reynolds sieht im Glamrock die Essenz dessen, was Pop im Allgemeinen ausmachen sollte: fremdartig, sensationslüstern, auf eine gleichzeitig positive wie negative Weise hysterisch, „ein Ort, an dem sich das Sublime und das Lächerliche treffen und dabei ununterscheidbar werden“.
Was ist Glamrock?
Glamrock war trotz aller gemeinsamen ästhetischen und musikalischen Grundlagen eine heterogene Bewegung – bunt, schrill und provokant. Und doch waren zahlreiche ihrer Protagonisten eng miteinander verwoben, durch Freundschaft oder Feindschaft, ein gemeinsames Management, denselben Produzenten oder Songwriter-Teams oder einfach als Teil einer zunehmend erfolgreichen Szene, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1971 bis 1974 hatte, wobei es naturgemäß Vorreiter – theatralische Acts wie The Move oder The Crazy World Of Arthur Brown – und Nachzügler gab. Nach der allgemein als Startschuss angesehenen, im Oktober 1970 erschienenen T.Rex-Single „Ride A White Swan“ mit der unsterblichen Zeile „Catch a bright star and place it on your forehead“ formierte sich in England eine Szene, die eine junge, laute und grelle Antwort auf die immer ernster und unglamouröser werdende Rockmusik der Ära mit ihrer Glorifizierung des Rockalbums als Kunstform war. Letzterem setzte sie wie in den guten alten Zeiten die unbändige Macht der 45er-Single entgegen, die ein jüngeres Publikum ansprach. Und sie stellte nicht zuletzt eine zunehmende Öffnung hin zur gesellschaftlichen Anerkennung von Homosexualität und dem damit zusammenhängenden Trend zur Androgynität in den Vordergrund.
Tatsächlich ging es im Glam größtenteils um effeminierte Männer mit Hang zur Androgynität oder zumindest zu mehr als grenzwertiger Garderobe; Frauen waren aus diesem erlauchten Kreis in der Regel ausgeschlossen – mit Ausnahme von Suzi Quatro, die wiederum trotz ihres jugendliche Phantasien anheizenden Ganzkörperlederanzugs ein maskulinisiertes „Tomboy“-Image pflegte. Man beachte nur das Cover ihres Debütalbums, auf dem sie sich als Bandleaderin vor (!!!) ihrer biersaufenden Band präsentiert.
Glamrock hatte sein Zentrum im immer noch swingenden London und umfasste zum einen künstlerische und soziale Visionäre wie David Bowie und Roxy Music, die Androgynität und ein neues Freiheitsdenken nicht nur in die Popkultur, sondern gleichermaßen in die Gesellschaft einbrachten. Diese Künstler verstanden Rockmusik weiterhin als konzeptionell, erachteten jedoch die ästhetische Inszenierung derselben als zentral für ihr angestrebtes Gesamtkunstwerk. „Wir sind keine Singles-Band“, erklärte seinerzeit Roxys Bryan Ferry, „wir wollen doch nicht damit enden, in dieses grauenhafte Slade-/T.Rex-Loch zu fallen.“ Zum anderen erschienen immer mehr immens erfolgreiche bunte Vögel wie Gary Glitter, Slade oder The Sweet in der Szene, für die das Farbfernsehen erfunden worden war und die sich auf ihren erfolgreichen Singles eher simpleren musikalischen Gelüsten hingaben. Viele dieser Acts wurden unter anderem auch unter den Begriffen Glitter Stomp und Disco Rock subsumiert und visierten entgegen dem Rock-Zeitgeist wieder ein jüngeres Publikum an, um gemäß dem Sweet-Songtitel den „Teenage Rampage“ zu zelebrieren.
Auch eine zuvor eher erfolglose Bluesrockband wie Mott The Hoople erlebte auf ihrem fünften Album mit prominenter Unterstützung David Bowies, der ihnen seinen Song „All The Young Dudes“ schenkte und das dazugehörige Album produzierte, plötzlich ihre Glam-Erweckung samt konsequentem Garderobenwechsel, während der stets selbstironische Roy Wood mit Wizzard in seine eigenen Fußstapfen als The-Move-Frontmann trat, sich aber noch schriller und absurder gerierte als zuvor. Selbst Elton John kam in jenen Jahren zwischen 1972 und 1974 nicht zuletzt aufgrund seiner grellen Outfits und albernen Brillen sowie undefinierter Sexualität zu Weltruhm, nachdem er als ernsthaft auftretender Singer-Songwriter nur einer von vielen gewesen war. Und auch wenn Glam ein rein britisches Phänomen war – die meisten Künstler konnten in den USA nicht Fuß fassen, selbst Bowie verkaufte dort in seiner Glam-Phase schlecht –, lässt sich die Grusel-Theatralik eines Alice Cooper und die mit Straßendreck behaftete Tuntigkeit der New York Dolls, die allesamt Crossdressing in die Popmusik einführten und vom bewusst eingesetzten Schock-Moment lebten, durchaus im Rahmen einer erweiterten Definition von Glam erklären. In dieselbe Kerbe schlug auch das Spiel mit der schwulen Subkultur eines Lou Reed.