eclipsed: Euer neues Album ist nach einem seltsamen Ritual aus dem alten Griechenland benannt, bei dem sich junge Männer angeblich in Werwölfe verwandelten. Steckt in dem Werwolf-Motiv auch etwas Aktuelles?
Martin Lopez: Uns faszinieren die großen alten Themen der Menschheit, weil diese Grundthemen letzten Endes zeitlos sind: religiös fundierte Kriege sind ein Beispiel. Es ist vor diesem Hintergrund nicht schwer, unsere Songs auf die Gegenwart zu beziehen. Wenn man auf vergangene Epochen Bezug nimmt, wird umso deutlicher, dass die Hauptprobleme der Menschheit sich nicht sehr verändert haben. Es sind wohl Instinkte, die verhindern, dass wir uns gegenseitig tragen und Schwächere unterstützen. Am Schluss setzt sich doch das innere Raubtier durch, das andere unterwirft oder tötet. Auch wenn wir heute mit Anzug und Smartphones herumlaufen, machen wir im Großen und Ganzen das Gleiche wie die Menschen vor 3000 Jahren, als es noch Sklaven und Könige gab ...
Joel Ekelöf: Im Moment erscheinen uns die Zeiten besonders extrem, weil vieles auf einmal im Fluss ist. Das macht die Leute unsicher, und sie beginnen, sich nach starken Führern zu sehnen. Dafür steht das Motiv des Wolfs auf der Plattenhülle: Der Wolf steht für solche Menschen, die von unruhigen Zeiten profitieren, weil sie genau wissen, was sie wollen und was sie dafür tun müssen, um nach oben zu kommen.
eclipsed: Gibt es auch positive Aspekte am Wolf?
Lopez: Er steht auch für Stärke und Gemeinschaft, also das, was wir auch in der Musik finden. Nicht zu vergessen: Aggression oder, im Falle unserer Musik, eher Wut. Sie ist ein wichtiger Teil unserer Musik. Wir drücken das allerdings nicht zwangsläufig auf musikalisch extreme Weise aus, eher über die Lyrics. Heavy Music war schon immer ein wunderbares Ventil, um solche starken Gefühle loszuwerden. Das muss nicht zwingend laut werden, selbst wenn wir alle mit dieser Musik aufgewachsen sind und meine eigenen musikalischen Wurzeln in einer Band liegen, die extremen Metal gespielt hat.
Ekelöf: Growling (das genretypische orkhafte Brüllsingen vor allem im Death Metal, Anm. d. Red.) kam für mich beispielsweise nie in Frage. Ich habe mich schon immer an Sängern orientiert, deren Stimme melodisch ist. Wir fühlen uns mit Soen eigentlich ganz wohl im Progressive-Feld, denn unsere Musik lebt nicht nur von der einen oder anderen Emotion, sondern uns interessieren die Kontraste: das Hässliche und das Schöne, das Sanfte und das Harte – und das, was sich zwischen den Polen abspielt.
Lopez: Unser Song „Lucidity“ ist ein gutes Beispiel dafür. Er ist harmoniebetont und strahlt reine Schönheit aus, aber das Thema ist dunkel. Es sind schwerwiegende Erfahrungen aus meiner Vergangenheit, die ich in den Lyrics aufgearbeitet habe. Themen, die ich bisher für mich behalten habe, ob es um Drogenerlebnisse geht, um Psycho-Dinge oder auch mir nahestehende Menschen, die ihr Leben ruiniert haben.
Ekelöf: Wir sind mit diesem Album einen neuen Weg gegangen: Es ist viel persönlicher als bisher. Martin und ich sind in unseren Texten teils in eigene Abgründe hinabgetaucht. Darin unterscheidet sich „Lykaia“ von den beiden vorigen Alben, bei denen wir eher konzeptuell vorgingen und uns mit philosophischen Fragen befasst haben.
Lopez: Letztlich hat dieser Ansatz zu einer direkteren musikalischen Sprache geführt. Wir haben die Songs konsequent analog aufgenommen. Wir wollten uns nicht in Details verlieren, nichts hinzufügen, das nicht notwendig ist.
Ekelöf: Man kann nicht alles kontrollieren, auch wenn viele das glauben und wir in einer scheinbar technisierten Welt leben. Aus diesem Grund hat uns die analoge Aufnahmeweise so interessiert, und so konsequent wie diesmal haben wir das auch noch nie umgesetzt. Wir ließen uns die nötige Zeit, um zu üben und die Takes live einzuspielen. Und wir haben auch akzeptiert, „Unregelmäßigkeiten“ drinzubehalten, solange der Take als solcher stark war. Bei Songs wie „Paragon“ etwa war nur das Grundgerüst vorab klar, während sich viele Stimmungen und Sounds erst spontan im Studio ergeben haben.
eclipsed: Ihr habt schon angedeutet, dass ihr euch im Progressive-Feld ganz wohl fühlt. Gibt es, davon abgesehen, auch Inspirationsquellen, die man bei Soen vielleicht nicht gleich auf dem Zettel hat?
Lopez: Ich finde viel Spannendes in südamerikanischer Musik oder auch im arabischen Raum, zum Beispiel beim kurdisch-türkischen Sänger İbrahim Tatlıses.
Ekelöf: Und ich liebe Kate Bush und Björk!
*** Interview: Ulrike Rechel