Danach war nichts mehr wie zuvor: Mit nur einem einzigen TV-Auftritt küssten die Beatles einen ganzen Kontinent aus dem Dornröschenschlaf. Nie wieder gründeten sich in Nordamerika so viele Bands, nie wieder erlebte das US-Musikbusiness einen derartig tiefgreifenden Umbruch und nie wieder die dortige Instrumentenbranche einen solchen Boom wie in den Wochen nach dem Gastspiel der Fab Four in der „Ed Sullivan Show“. Der 9. Februar 1964 war nicht nur der Startschuss für die legendäre „British Invasion“ - er wurde zur Geburtsstunde der US-Rockmusik und veränderte das, was wir unter Pop verstehen, für immer. Eine Spurensuche.
Ihn kann nur wenig beeindrucken. Der Mann mit dem öligen, streng zurückgekämmten Haar, der wulstigen Unterlippe und dem listigen Blick hat schon so ziemlich alles gesehen. Gut die Hälfte seiner 62 Lebensjahre hat der kleingewachsene New Yorker im US-Showbusiness zugebracht, dort zählt er zu den einflussreichsten Figuren überhaupt. Das hier aber lässt selbst ihn staunen. Ein ungeheurer Lärm, schrill wie ein Dutzend Sirenen, übertönt sogar die startenden Düsenjets! Klar, es ist einiges los am Heathrow Airport an diesem Donnerstag, dem 31. Oktober 1963: Teilnehmerinnen der anstehenden „Miss World“-Wahl landen, dazu schickt sich der gerade erst von der Queen ernannte neue Premierminister Alec Douglas-Home mitsamt Gefolge an, von hier aus zu einem Staatsbesuch zu starten. Aber weder der Politiker noch die jungen Damen sind der Grund für das lautstarke Inferno, das die etwa 1.500 Teenager am Empfangsterminal und auf der Besucherterrasse des Londoner Flughafens verursachen. Stattdessen sind es vier junge Männer, die seit einigen Monaten das Königreich verrückt machen und just mit ihrer Maschine auf der Rollbahn aufgesetzt haben. Die Beatles kehren aus Schweden zurück, wo sie in den letzten Tagen Konzerte und TV-Auftritte absolviert haben. Das Heer der Teenager bildet ihr Begrüßungskomitee. Und der Amerikaner mit dem Pomadenhaar, Ed Sullivan sein Name, fragt sich, wer zur Hölle diese Beatles sind. Er wird es bald wissen. Seine Landsleute indes müssen sich noch ein paar Monate gedulden - bis zum 9. Februar.
Schneeball-Effekt
Jetzt aber sind die Beatles und alles, was damit zu tun hat, für die Menschen jenseits des Atlantiks im wahrsten Sinn des Wortes Zukunftsmusik. Tatsächlich glaubt niemand an einen Beatles-Coup in Übersee. Schon gar nicht hier im Königreich. Und womöglich verliert sogar ihr Manager allmählich die Hoffnung - bei dem Versuch, den Amis seine Schützlinge anzudienen, fängt sich Brian Epstein eine Absage nach der anderen ein. Die schwerwiegendste: Capitol Records, der US-Vertriebspartner der englischen EMI, bei der die vier Liverpooler unter Vertrag stehen, weigert sich, deren Platten zu veröffentlichen: „Wir glauben nicht, dass die Beatles auf diesem Markt etwas ausrichten können“, so die lapidare Begründung. Aber Epstein weiß: Welterfolg entscheidet sich dort drüben, nicht an Mersey und Themse. Also bleibt er dran. Zunächst behelfen sich EMI und Epstein mit Kleinlabels wie Veejay und Swan, die einzelne Beatles-Singles in den USA veröffentlichen. Aber denen fehlt es an Marktmacht, kein Airplay, ungenügender Vertrieb, die Platten gehen unter. Es scheint, als würden die Beatles weltberühmt nur im Königreich bleiben. Ihr Amerikanischer Traum scheint ausgeträumt, noch bevor sie überhaupt einen Fuß in die Neue Welt gesetzt haben. John Lennon wird später sagen: „Wir dachten nicht, dass wir eine Chance hätten. Wir stellten es uns nicht einmal vor.“ („Beatles Anthology“, Ullstein Verlag, 2000)
An dem Tag aber, als Ed Sullivan in Heathrow einer Horde Teenager begegnet, beginnen sich die Dinge zu drehen. Schon eine knappe Woche später, am 5. November, dem Morgen nach dem triumphalen Beatles-Auftritt bei der „Royal Command Performance Variety Show“, die den eigentlichen Startschuss für die Beatlemania in Großbritannien gibt, fliegt Brian Epstein nach New York. Dort ist er einmal mehr mit Brown Meggs verabredet, dem Director of Eastern Corporations bei Capitol Records. Epstein spielt ihm die nagelneue Aufnahme „I Want To Hold Your Hand“ vor, und Meggs hört darauf nun endlich etwas, das er zuvor noch nicht gehört hat. Man kommt überein, den Song am 13. Januar als Single für den US-Markt zu veröffentlichen. Die zweite Verabredung hat Epstein mit dem kleinen Amerikaner mit den öligen Haaren in Manhattans Delmonico Hotel (dem heutigen Trump Park Avenue). Dort besiegeln Epstein und Sullivan, der das Erlebnis in Heathrow nicht vergessen hat, einen Vertrag, demzufolge die Beatles im Februar in seiner „Ed Sullivan Show“ auftreten dürfen. Ein Wagnis. Aber Sullivan geht es ein.