EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN - Schichtwechsel

EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN - Schichtwechsel

Berlin ist komplett durchgentrifiziert. Umso erfreulicher ist es, dass die Neubauten immer noch einstürzen: Sechs Jahre nach dem letzten Album „Lament“ treten Blixa Bargeld und seine Band auf „Alles in Allem“ vollständig geläutert an. 

Um es vorwegzunehmen: „Alles in Allem“ ist ein schönes Album. Es ist vielleicht sogar das schönste Album, das die Einstürzenden Neubauten je gemacht haben. Oder, um es noch deutlicher zu formulieren: Es ist das erste Album der Gruppe mit einem durchgehenden Feingefühl für offene und verborgene Schönheit, dem man sich kaum entziehen kann. Was ist mit Blixa Bargeld und den Dauerprovokateuren von den Einstürzenden Neubauten passiert?

„Alles in Allem“ ist ein Berlin-Album und zugleich auch nicht: Es ist ein Album, das zuerst ein Berlin-Album werden sollte, dann doch nicht mehr, und das trotzdem nicht umhin kam, eines zu werden. Nicht nur verraten Songtitel wie „Wedding“, „Tempelhof“, „Am Landwehrkanal“ oder „Grazer Damm“ einen eindeutigen Berlin-Bezug, auch in seiner Erzählhaltung lässt Blixa Bargeld die Tradition der Berliner Moritat aufleben. Die tänzerisch-luftige Dynamik des Albums drängt das Bild von Marc Chagalls Liebespaaren auf, die am Firmament von Paris schweben, nur dass es sich hier eben um den Himmel über Berlin handelt. Doch die Einstürzenden Neubauten wären nicht die Band, die sie sind, wenn nicht am Ende immer alles anders kommen würde, als es ursprünglich geplant war: „Die Berlin-Referenz ist ein wenig irreführend“, betont Blixa Bargeld. „Am Anfang der Arbeit fragte mich Alex Hacke, ob es ein Konzept oder eine Idee geben würde. Ich sagte: ‚Vielleicht hat es etwas mit Berlin zu tun.‘ Weiter sollte das gar nicht gehen. Es gab ein Stück namens ‚Welcome To Berlin‘, das bei der letzten Qualitätskontrolle aussortiert wurde. Die musikalische Substanz war zu dünn, die textliche Kette zu flach. Es wäre nur missverstanden worden. Jetzt ist das eigentliche Kernstück zum Thema gar nicht da, und in der Mitte der Platte klafft ein großes Loch. Alles andere sind nur Satelliten, die in irgendeiner Form von dieser Berlin-Referenz infiziert wurden. ‚Tempelhof‘ hieß ursprünglich ‚Pantheon‘. In ‚Wedding‘ wird außer dem Wedding-Mantra nichts über den Wedding ausgesagt. ‚Grazer Damm‘ ist wirklich eine Referenz. Da bin ich aufgewachsen, meine Schwester lebt immer noch in derselben Wohnung. Alles in diesem Song basiert entweder auf Erinnerung und Gedächtnissplittern oder es ist ein Traum.“

Mit dem real existierenden Berlin der Gegenwart hat diese Platte also wenig zu tun. Insofern ist es eben kein Berlin-Album. Es ist ein Traum, die Projektion einer Erinnerung, ein inneres Refugium. Das von Blixa Bargeld besungene Berlin findet man nicht mehr in den Straßen, sondern nur noch in immer weniger Köpfen. Die Welt, die sich hier entblättert, erinnert an die Filme Rainer Werner Fassbinders. Und doch beschreiben die Songs etwas auf vertraute Weise Neues. In „Möbliertes Lied“ heißt es: „Die verbrauchten Metaphern hab’ ich im Giftmüll entsorgt“. Das ist vielleicht der auffälligste Paradigmenwechsel: Der für Bargeld typische Sarkasmus ist einer versöhnlichen Draufsicht gewichen. „Der Sarkasmus hatte sich in ‚Welcome To Berlin‘ gebündelt. Und das ist dann eben weggefallen. Vielleicht taucht er irgendwann wieder in einer anderen Situation auf. Ich bin eben auch nicht mehr zwanzig. Wenn man den Dialog zwischen dem alten und dem jungen Blixa sehen will, bietet sich ‚Susej‘ von ‚Alles wieder offen‘ an. Der Song behandelt die Frage, ob das, was mal vorhanden war, immer noch vorhanden ist. Ja, es ist immer noch vorhanden. Das ist eine der vielen Schichten, aus denen ich bestehe. Aber es wäre ärmlich, wenn ich in den 40 Jahren, die ich jetzt mit den Einstürzenden Neubauten arbeite, nichts gelernt und keine Erfahrungen gemacht hätte. Ich verstehe wesentlich mehr von Musik als 1980. Das ist ein Vorteil und ein Nachteil. Aber ich kann es nicht ungeschehen machen und einfach so tun, als wüsste ich die Dinge nicht, die ich heute weiß. Die Wut, die ich 1980 an den Tag gelegt habe, habe ich heute nicht mehr. Die wäre gelogen. Die liegt irgendwo in meinen Schichten verborgen, aber ich kann mich nicht in der gentrifiziertesten Gegend Berlins niederlassen und so tun, als würde ich immer noch in einem besetzten Haus wohnen.“

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