Vor 50 Jahren legten Genesis ihr einziges Studiodoppelalbum vor, das bis zum heutigen Tag eine Ausnahmestellung einnimmt und eine Kultanhängerschaft besitzt. Das ambitionierte Konzeptwerk mit filmreifer Story bedeutete für die Band eine ähnliche Zäsur wie fünf Jahre später „The Wall“ für Pink Floyd: Am Ende der Tour zum Album stieg der charismatische Frontmann Peter Gabriel aus. Wir beleuchten das kryptische Konzept von „The Lamb Lies Down On Broadway“ und befragen dazu ausführlich den Gitarristen Steve Hackett, der anlässlich des Jubiläums in diesem Jahr auch mit Songs jenes Albums auf Tour ist.
Schon durch „Selling England By The Pound“ (1973) – damals ein Wahlkampfslogan der Labour Party – hatten sich die Progpioniere mit gesellschaftskritischen Tönen ein realitätsnäheres Image verschafft. Zu dieser Verlagerung weg von fantastischen Geschichten aus dem alten England hin zu Themen aus dem Hier und Jetzt trug „The Lamb Lies Down On Broadway“ nochmals deutlich bei. Die darauf erzählte Story um einen in New York lebenden puerto-ricanischen Jugendlichen namens Rael (ein bewusst gewählter Name, um die Figur nicht mit einer bestimmten Ethnie zu assoziieren) ist eine surreale Reise der Persönlichkeitsspaltung und Identitätsfindung, die mit der spirituellen Transformation des Protagonisten im Angesicht des Todes endet. Die Beschreibungen von bizarren Situationen und kuriosen Gestalten sind reich an satirischen Anspielungen auf Kommerzialisierung und Mythologie. Neben den Songtexten wurde eine Zusammenfassung der Handlung im Booklet abgedruckt, doch für die Fans war es eine anspruchsvolle Aufgabe, die zahlreichen Verweise auf die „West Side Story“, den Psychoanalytiker C.G. Jung, Komödianten wie Lenny Bruce und Groucho Marx, den exzentrischen Unternehmer Howard Hughes oder den Ku-Klux-Klan zu entschlüsseln. Auch der Geschichte im Ganzen mit all ihren Metamorphosen und ambitionierten Klangräumen zu folgen, war wahrlich kein leichtes, doch lohnendes Unterfangen.
Kultalbum zum Rätselraten mit avantgardistischen Experimenten
Obwohl es nicht zur geplanten Zusammenarbeit von Gabriel mit Filmregisseur William Friedkin („Der Exorzist“) kam, nahmen die Spannungen in der Band allein aufgrund der Tatsache zu, dass der Sänger darauf bestanden hatte, alle Texte gewissermaßen allein im stillen Kämmerlein zu verfassen. Musikalisch experimentierten Genesis mit ihren Instrumenten und elektronischen Mitteln dafür so ausgiebig wie nie zuvor. Auch wenn man von LP-seitenlangen Tracks absah, wurde der progressive Ansatz auch kompositorisch bis zum Äußersten ausgereizt: Man wiederholte und variierte musikalische Motive, schreckte vor keinen noch so komplexen und schrägen Rhythmen zurück und erschuf Instrumentalpassagen und -stücke, die sich gar der Avantgarde annäherten („The Waiting Room“, „The Colony Of Slippermen: The Arrival“) oder als früher Ambient gelten können („Silent Sorrow In Empty Boats“). Bezeichnend ist, dass Ambientvorreiter Brian Eno bei zwei Stücken mit Effekten aushalf. Songs wie das Titelstück, „Fly On A Windshield“, „The Lamia“, „In The Cage“ und „The Chamber Of 32 Doors“ gehören mit ihrer virtuosen Tastenarbeit, grandiosen Mellotronflächen und singender Gitarre zum Tafelsilber der Band – von der überirdischen Ballade „Carpet Crawlers“ ganz zu schweigen.