GROSSES WEISSES WUNDER - 50 Jahre Bootlegkultur

9. Juli 2019

Bootlegs

GROSSES WEISSES WUNDER - 50 Jahre Bootlegkultur

Fast jeder Plattensammler hat eines im Regal: ein Bootleg. Zunächst lavierten sich die Hersteller und Verkäufer der nicht autorisierten Studio- und vor allem Konzertmitschnitte durch Schlupflöcher im Gesetzbuch. Doch schnell sagten die Plattenindustrie und die von ihr vertretenen Künstler dem Treiben den Kampf an, um entgangene Gewinne zurückzuholen. Vor 50 Jahren erschien mit „Great White Wonder“ eine Doppel-LP mit Liedern von Bob Dylan: das erste Bootleg der Rockgeschichte. Die Nachricht verbreitete sich rasant, zunächst an der Westküste der USA, dann im ganzen Land: ein neues Dylan-Album, das Cover ganz in Weiß, war auf dem Markt. Dieses stammte allerdings nicht von Columbia Records, wo Dylan unter Vertrag stand. Was da im Juli 1969 in den Plattenläden lag und offen verkauft wurde, ging unter dem Namen „Great White Wonder“ als das erste Bootleg in die Rockgeschichte ein.

Die beiden Vinylscheiben hatten zunächst ebenfalls weiße Labels. Die Stücke auf den Seiten 1 und 3 hatte der junge Robert Zimmermann bereits im Dezember 1961 im Appartement einer Schulfreundin aufgenommen, auf Seite 2 fanden sich einige Studio-Outtakes. Das größte Interesse galt jedoch den sieben Titeln auf der vierten Seite: Diese hatte Dylan im Sommer 1967 mit The Band eingespielt und waren wie alles, was auf „Great White Wonder“ zu hören war, vom Meister zuvor nicht veröffentlicht worden (Ausnahme: „Man Of Constant Sorrow“). Es gab aber schnell eine eigene Version von „I Shall Be Released“ von The Band auf deren Debüt „Music From Big Pink“ und eine bärenstarke Fassung von „This Wheel’s On Fire“ der britischen Sängerin Julie Driscoll mit Brian Auger And The Trinity; die Gruppe Manfred Mann machte „Mighty Quinn“ zum Welterfolg.

Womit Dylan nicht gerechnet hatte: Seine Fans wollten unbedingt die Originalfassungen dieser Songs hören, bildeten sie doch so etwas wie eine Brücke zwischen dem Material von „Blonde On Blonde“ (1966) und dem „akustischen Bob“ von „John Wesley Harding“ (1967). Als der „Rolling Stone“ im Juni 1968 eine Titelgeschichte über „The Missing Bob Dylan Album“ veröffentlichte und forderte: „Bob Dylan’s basement tape should be released“, war die Vorfreude groß. Doch Columbia dachte nicht daran, das Material herauszubringen, und der Musiker selbst wurde mit „Nashville Skyline“ zum Country-Bob. Vor diesem Hintergrund und wegen der laxen Urheberrechtsgesetze in den Staaten kam das praktisch einer Aufforderung an künftige Raubkopierer gleich, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Vom Radio in die Welt

Die Aufnahmen von 1967 auf „Great White Wonder“ stammten von einem Acetat mit 14 Titeln, von dem einzelne Stücke durch Piratensender an der Westküste bekanntgemacht wurden; die Songs, vom Radio aufgenommen, verbreiteten sich in Windeseile. So stießen Ken Douglas und „Dub“ Taylor, Angestellte eines Schallplattengroßhändlers in L.A., auf den unveröffentlichten Stoff. Taylor: „Wir gaben in einem Laden Bänder – ich glaube von Donovan – zurück, die sich nicht verkauft hatten, und nahmen stattdessen diese Dylan-Kassetten mit.“ Ein Bekannter von Douglas verschaffte ihnen das Startkapital, mit dem sie 1000 Doppel-LPs pressen ließen. Die Angestellte einer Filiale der Undergroundzeitschrift „Los Angeles Free Press“ nahm die „Neuerscheinung“ in ihr Sortiment auf und schlug den Namen vor, der zum Markenzeichen wurde: Das Bootleg war geboren.

Der kommerzielle Erfolg überraschte selbst die Macher. Taylor: „Wir wussten zunächst gar nicht, in was wir da hineingeraten waren.“ Die beiden gründeten mit „Trademark Of Quality“, abgekürzt TMOQ, ihr eigenes Bootleglabel und brachten reihenweise Konzertaufnahmen auf den Markt, als erste „Live’r Than You’ll Ever Be“, aufgenommen mit Sennheisermikrofon und Uher-Tonband während der ’69er-US-Tour der Rolling Stones. Zwar bemühten sich Columbia Records, die Dylan-Bootlegger juristisch an die Leine zu legen, mussten jedoch feststellen, dass das gar nicht so einfach war. Der Name des Künstlers stand nicht auf dem Cover und den Labeln, Dylan hatte sich seine Arrangements der 1961 aufgenommenen Stücke (die meisten Traditionals) nicht schützen lassen, und er war zum Zeitpunkt der Aufnahmen noch nicht bei CBS unter Vertrag. Vor allem aber: Durch das Urheberrecht in den Staaten war zwar die Tonfolge eines Musikstücks, nicht jedoch dessen öffentliche Aufführung geschützt.

Nicht autorisierte Mitschnitte von Konzerten von Dylan, den Stones und Led Zeppelin fanden im Dutzend den Weg aus den Staaten nach Europa. Unter der wackligen Überschrift „Underground raubt Dylan“ berichtete die „Westfälische Rundschau“ an Pfingsten 1970 über das „nicht ganz legale Tun“ deutscher Plattenhändler, während „Die Zeit“ über „Die Topstars der Popmusik auf amerikanischen Raubplatten“ schrieb. Eines der europäischen Bootlegzentren war Amsterdam. Dort hatten findige Leute rasch herausgefunden, dass es bedeutend lukrativer war, Schwarzpressungen selbst herzustellen, als sie für horrende Summen aus den USA zu importieren. So gab es schon 1970 ein holländisches Gegenstück zu „Great White Wonder“ („Little White Wonder“, Hobo Records). Die Klangqualität war wie bei vielen Raubkopien unterirdisch, aber die Käufer waren zufrieden: Auf ihren Plattentellern rotierten im Studio nicht nachträglich aufbereitete und damit ihrer Meinung nach unverfälschte Aufnahmen.

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