„Oxymore“ heißt das neue Werk des Elektronikpioniers Jean-Michel Jarre. Wer denkt, der smarte Franzose schließe damit an seinen Hit „Oxygène“ an, liegt gänzlich falsch. Vielmehr handelt es sich um eine Hommage an Pierre Henry, einen der Schöpfer der Musique concrète, die einst den Boden für die Entstehung moderner elektronischer Musik schuf. Mit „Oxymore“ gelang Jarre ein avantgardistisches, klanglich regelrecht verstörendes Werk, das sich in der binauralen 3D-Version und Jarres VR-Welt „Oxyville“ zu voller Größe entfaltet.
Am Silvesterabend 2020, in Zeiten physischer sozialer Distanzierung, präsentierte sich Jean-Michel Jarre im Rahmen des virtuellen Notre-Dame-Events „Welcome To The Other Side“ bereits als Avatar. Auf „Oxymore“ arbeitet er wiederum mit binauralem 360-Grad-Surroundsound und VR-Raum und zeigt sich damit an vorderster Front der technologischen Entwicklung. Doch ist dieser gewaltige Schritt nach vorne zugleich ein Blick weit zurück: Die Integration von Klangfragmenten des 2017 verstorbenen Pierre Henry, eines Mitbegründers der Musique concrète (siehe Kasten), knüpft an Jarres Pariser Studienzeit bei der von Pierre Schaeffer geleiteten Groupe de recherches musicales (GRM) Ende der 1960er-Jahre an. Dieser zählte wie Henry zu den Erfindern der revolutionären Kompositionstechnik. Im Zoom-Interview gab Jarre gewohnt eloquent und kultiviert Auskunft über sein ganz besonderes Projekt „Oxymore“.
eclipsed: Worum geht es bei „Oxymore“, deiner Hommage an Pierre Henry?
Jean-Michel Jarre: Ich wollte im Rahmen meiner „Electronica“-Projekte noch mit Henry zusammenarbeiten, doch dann verstarb er. Henry ist ja weltweit nicht so bekannt, dabei ist er ein Haupteinfluss für die Art, wie wir heutzutage Musik machen, egal ob elektronische Musik, HipHop oder Soundtracks. Wir alle sind wie Sounddesigner. Die beiden Pierres, Henry und Schaeffer, sind die Väter der elektroakustischen Musik, genannt Musique concrète – also der Idee, Musik nicht aus Noten und Tonleitern, sondern aus Klängen wie etwa Feldaufnahmen zu erschaffen. Der Unterschied zwischen Geräusch und Musik ist der Künstler, der die Klänge einsetzt.
eclipsed: Wie entstand „Oxymore“ konkret?
Jarre: Ich wollte den Bogen zurück zu dieser Periode damals schlagen, die ja bereits in den 1940ern begann. Es war eine Überraschung, als Henrys Witwe auf mich mit Klängen und Fragmenten zukam, die er mir hinterlassen hatte. Nach dem Beginn der Corona-Pandemie begann ich, mich mehr und mehr für VR-Räume und Musik zu interessieren, die die Menschen aktiv ins Geschehen einbezieht. Als ich mir dann Gedanken zu „Oxymore“ machte, hielt ich es für eine gute Idee, diese Sounds von ihm wie exotische Gewürze beim Kochen und als Inspiration einzusetzen und so die französischen Ursprünge elektroakustischer Musik zu würdigen. „Oxymore“ ist die Verbindung aus späten 40er-Jahren und dem Zukunftshorizont mit binauralen Klängen und VR-Räumen.
eclipsed: Welchen Stellenwert hat die binaurale 360-Grad-Produktion?
Jarre: Dieses Projekt ist bereits im Hinblick auf die Komposition auf 360-Grad-Raumklänge ausgerichtet. Stereo gibt es in der Realität nicht, es ist nur eine technisch begrenzte Konstruktion zur Klangverstärkung. Ironischerweise erlaubten uns nun die neuen Möglichkeiten wie Dolby Atmos, zum ursprünglichen, natürlichen Musikerlebnis zurückzukehren. Deshalb wollte ich eine Komposition bereits mit Klangelementen um mich herum im Raum beginnen.