In einer entweihten Kirche in Halberstadt begann 2001 die langsamste Musikaufführung der Welt. Es handelt sich um das Orgelstück „ORGAN²/ASLSP“, ein in diesem Fall auf nicht weniger als 639 Jahre gedehntes Werk des musikalischen Innovators John Cage. Ein Besuch in der Kleinstadt in Sachsen-Anhalt, die seit 21 Jahren von Cage-Fans und Medien aus aller Welt beobachtet wird.
640 Schrifttafeln ziehen sich wie eine Metallkette durch das Innere der St.-Burchardi-Kirche im ehemaligen Zisterzienserinnenkloster von Halberstadt. Es sind Klangjahrestafeln, die einerseits helfen, das hier ablaufende Musikprojekt mitzufinanzieren. Anderseits fungieren sie als Zeitdokumente für zukünftige Betrachter. Für die Tafel für das Jahr 2589 etwa hat eine Frau Kolb aus Selb 1200 Euro gestiftet. Sie trägt die Inschrift: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ – ein Klassiker der Alltagsphilosophie des 20. Jahrhunderts, in dem besonders viele Kunstwerke für maximales Unverständnis in der Öffentlichkeit sorgten.
Berühmt und berüchtigt für derartige Werke ist auch der Amerikaner John Cage, ein Komponist, bildender Künstler, Philosoph und Revolutionär der modernen Musik.
Bereits Anfang der 1950er-Jahre experimentierte er mit Zufallsbausteinen in seinen Kompositionen und schockierte die Kritikerwelt mit dem Stück „4’33“: 4 Minuten und 33 Sekunden kein Ton, kein Klang, reine Stille. Ob es am Ende Kunst war, was er machte, diese Frage hat er sich nie gestellt. Trotzdem hat sie ihn bis zu seinem Tod 1992 fast ständig begleitet – und sie wird die Menschen möglicherweise auch noch die nächsten 618 Jahre umtreiben. So lange nämlich soll die vor 21 Jahren begonnene Aufführung des Orgelstücks „ORGAN²/ASLSP“ noch andauern. Der sperrige Titel passt ziemlich gut zu einem Musikstück, dem jede Eingängigkeit fehlt und das zweifellos als langsamstes Orgelwerk der Welt bezeichnet werden kann: Phasenweise erklingt über mehrere Jahre lediglich ein Akkord.
15. Klangwechsel nach 21 Jahren
Am 5. Februar dieses Jahres gab es erst den 15. Klangwechsel: Das seit dem 5. September 2020 gespielte gis hatte ausgedient, für 24 Monate hört man nun einen Klang aus sechs statt sieben Orgelpfeifen. Angelockt von dem Ereignis wurden neben einem ARD-„Tagesthemen“-Team auch etliche Neugierige aus dem In- und Ausland. Mittenmang Rainer Neugebauer, der künstlerische Leiter des John-Cage-Orgel-Kunst-Projekts. Geboren in Wilhelmshaven, zog er 1997 nach Halberstadt, um an der hiesigen Hochschule Harz als Professor für Sozialwissenschaften zu lehren. Seine riesige Wohnung am Domplatz ist voller Bücher. An einer Wand hängt ein gerahmtes Foto von Bob Dylan, den Neugebauer ebenso verehrt wie John Cage. Deshalb huldigt er ihm auf der von ihm gestifteten Klangjahrestafel 2423 mit Textauszügen aus diversen Dylan-Songs, unter anderem dem Bluesstück „Highlands“ vom Album „Time Out Of Mind“: „Life in the same ol’ cage.“
Gleich neben dem Dylan-Bild lacht Cage einen aus einem Foto an. Dazu hängt dort ein Zitat von ihm: „Music is everywhere, you just have to have the ears to hear it.“ Eigentlich ist damit alles gesagt, aber Rainer Neugebauer nimmt sich gern die Zeit, interessierten Besuchern die Dinge ausführlich zu erklären. Also erzählt der Vorsitzende des Kuratoriums der John-Cage-Orgel-Stiftung, dass „ORGAN²/ASLSP“ auf einem 1985 uraufgeführten Klavierstück von John Cage beruht, das „as slow as possible“ zu spielen ist (daher die Abkürzung „ASLSP“). 1987 wurde es unter Beteiligung des deutschen Organisten Gerd Zacher zu einem Orgelstück umgeschrieben. Nichts ist festgelegt außer der Tonhöhe und der relativen Dauer der Klänge, die bei einer Orgel durch permanente Luftzufuhr aus dem Blasebalg theoretisch unendlich sein kann. Gerd Zacher brauchte dafür bei der Uraufführung im November 1987 in Metz 29 Minuten und 14 Sekunden.
Ein musikhistorisch nachvoll-ziehbares Langzeitprojekt
Die Idee, die Vorgabe der maximalen Langsamkeit des Spiels auf die Spitze zu treiben, entstand erst nach dem Tod von John Cage. Im schwäbischen Trossingen trafen sich 1998 Organisten, Orgelbauer, Musikwissenschaftler, Philosophen und Theologen zu einem Symposium und stellten Überlegungen zu einer praktikablen Langzeitaufführung des Orgelstücks an, die auch musikhistorisch nachvollziehbar sein sollte. Letzterem wurde dadurch Rechnung getragen, dass durch die Wahl der ungenutzten Kirche des Halberstädter Klosters St. Burchardi als Aufführungsort auch ein Bezug zur 1361 im dortigen Dom fertiggestellten Orgel hergestellt wurde, der ersten, die laut schriftlichen Belegen über eine 12-tönige Klaviatur verfügte – genau 639 Jahre vor dem für 2000 geplanten Start des Projekts. Aus Geldmangel wurde der Beginn der Aufführung allerdings auf den 5. September 2001, den 89. Geburtstag des Komponisten, verschoben, sodass das Konzert nun erst 2640 enden soll.