KRAFTWERK - Elektronische Volksmusik

5. Oktober 2022

Kraftwerk

KRAFTWERK - Elektronische Volksmusik

Achtung, die Roboter kommen! Der große Freiluftauftritt von Kraftwerk im Bonner Hofgarten ist uns Anlass, die Geschichte der berühmten Band, die zum kulturellen Phänomen wurde, Revue passieren zu lassen. Die Ausnahmeelektroniker waren mehr als bloße Trendsetter: Sie brachten eine ganze Ära der computerisierten Moderne auf den musikalischen Punkt. Angefangen bei den frühen Avantgarde-Krautrock-Tagen (1968–73) bis zur Entwicklung ihres einzigartigen Sounds (von „Autobahn“ bis „Computerwelt“ 1974–81) als Düsseldorfer Zweig der hiesigen Elektronik erzählen wir die Geschichte eines teutonischen Musikexportschlagers, der ganze Genres beeinflusste bzw. entscheidend vorbereitete – sei es Synthiepop, Industrial, House, Detroit Techno oder HipHop. In einem zusätzlichen Beitrag lassen wir die Ex-Roboter Wolfgang Flür und Karl Bartos zu Wort kommen – und natürlich berichten wir auch vom Bonner Konzert als Teil der multimedialen Inszenierung einer Legende.

Menschliche Roboter schufen aus elektronischer Kraut-Avantgarde die Popmusik der Zukunft. 

Kein Riesenwerk, aber eine Riesenentwicklung: 1997 bezeichnete die „New York Times“ Kraftwerk als „Beatles der elektronischen Tanzmusik“. Zurecht: Zwischen 1974 und 1981 schrieben die Elektronikpioniere Musikgeschichte – mit nur fünf Alben, die die Musikwelt auf Jahrzehnte hinaus inspirieren sollten, insbesondere auch bei Stilen, die hauptsächlich auf dem Dancefloor geprägt wurden und deshalb Jugendkulturen etablierten. Insgesamt umfasst ihre Diskografie gerade einmal zehn reguläre Studiowerke; das letzte erschien 2003. Was macht Kraftwerks riesigen Einfluss als musikkulturelles Phänomen aus, der gar noch höher zu bewerten sein mag als jener der zeitgleich entstandenen Berliner Elektronikschule um Tangerine Dream, Klaus Schulze und Ash Ra Tempel, die meditativer und weniger popgesangsorientiert blieb? Hinsichtlich ihrer Bedeutung für gleich mehrere moderne Genres der Tanzmusik waren die Düsseldorfer noch wirkmächtiger, als postmodernes Gesamtkunstwerk war ihre Musik formstrenger konzipiert. Wir gehen der Sache auf den Grund und werfen einen Blick zurück auf die Anfangstage der Band.

Deutsche Identität mit Verkehrskegel: Die avantgardistische Frühzeit

Ralf Hütter und Florian Schneider lernten sich 1968 an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW in Remscheid kennen. Was sie zusammenführte, war ihr Interesse an improvisierter Musik jenseits orthodoxer (Kompositions-)Strukturen, die in der damaligen Zeit der Studentenrevolte Blüten trieb und später auch den Krautrock beeinflusste. Mit der Band Organisation traten sie in Universitäten und Galerien auf. Ihr Zusammentreffen mit dem visionären, minimalistisch agierenden Produzenten und Toningenieur Conny Plank, dem beim Krautrock und später auch der NDW eine Schlüsselrolle zukommen sollte, führte 1970 zur Veröffentlichung des experimentellen Albums „Tone Float“. Zeitgleich richteten Hütter und Schneider bereits ihr Kling-Klang-Studio in der Düsseldorfer Mintropstraße ein. Angesichts des ausbleibenden Erfolgs verließen sie die Gruppe, die sich daraufhin auflöste, und produzierten im selben Jahr gemeinsam mit Plank und Schlagzeuger Klaus Dinger (der später mit Neu! seinerseits Musikgeschichte schreiben sollte) unter dem Namen Kraftwerk ein rein instrumentales, gleichnamiges Album.

Das Cover von „Kraftwerk 1“ entspricht mit seinem roten Verkehrsleitkegel ganz der Pop-Art eines Andy Warhol. Hütter und Schneider wählten bewusst einen deutschen Namen für ihr Projekt, um in Abgrenzung von der Amerikanisierung in der Nachkriegszeit eine deutsche Identität aufzubauen. Auch die Songtitel waren im Gegensatz zum damaligen Zeitgeist deutsch. Ralf Hütter formulierte ihren Ansatz 1976 so: „Die lebendige Kultur Mitteleuropas wurde in den 30er-Jahren gekappt, und all die Intellektuellen gingen in die USA oder nach Frankreich, oder sie wurden eliminiert. Wir nehmen diese Kultur der 30er-Jahre an dem Punkt auf, an dem sie verlassen wurde, und dies auf einer geistigen Ebene.“ Die repetitiven Klangflächen orientierten sich noch ganz an der Avantgarde eines Karlheinz Stockhausen und wurden mit herkömmlichem Instrumentarium wie Orgel, Querflöte und Schlagzeug eingespielt, das lediglich um elektronische Manipulationen und Geräusche ergänzt wurde. Das Stück „Ruckzuck“ erlangte Bekanntheit als Titelmusik der ZDF-Sendung „Kennzeichen D“. 

Ende des Jahres verließ Hütter vorübergehend die Band und wurde durch den Gitarristen Michael Rother (später ebenfalls bei Neu!) ersetzt. Einen ersten großen TV-Auftritt hatten Kraftwerk am 22. Mai 1971 im „Beat-Club“. Wenige Monate später kehrte Hütter zurück, und mit dem Gitarristen und audiovisuellen Künstler Emil Schult, der fortan an Covergestaltung, Grafiken wie auch Kraftwerks ganz eigener Klangpoesie mitwirkte, kam ein weiterer wichtiger Mann hinzu. „Kraftwerk 2“ (1972) knüpfte mit experimenteller Musique concrète und einem grünen Verkehrskegel auf dem Cover an das Debüt an. Hütter und Schneider waren nun mit Conny Plank allein im Studio. Das Stück „Kling-Klang“, dessen Titel auch zum Namen ihres Studios wurde, ließ mit seinem geradlinigeren, monotonen Rhythmus schon die spezielle „Motorik“ der Düsseldorfer Schule vorausahnen. Trotzdem strichen Kraftwerk bei der Wiederveröffentlichung ihrer Alben 2009 die ersten beiden wie auch das dritte aus ihrem offiziellen Katalog. Schneider äußerte sich 1991 dazu so: „Heute sehen wir unsere ersten Alben nicht als wichtige Arbeiten an, als wichtige Kompositionen. Das war eine andere Zeit.“ Auf dem Drittling „Ralf und Florian“, einem hübschen Übergangswerk, wichen Hütter und Schneider 1973 mit dem Albumtitel und einem netten Coverporträt äußerlich vom entpersonalisierten Kraftwerk-Weg ab, um ihn mit dem allerersten Synthesizer- sowie Vocodereinsatz in der „Ananas Symphonie“ gleichwohl fortzuschreiben. Ihre Musik war nun songdienlicher, ein früher, einfacher Drumcomputer war hinzugekommen.

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