„Living In A Ghost Town“ singen die Rolling Stones in ihrem ersten neuen Song seit acht Jahren und meinen damit sicher nicht Lüchow. Das niedersächsische Städtchen ist keine Geisterstadt, nicht mal in Corona-Zeiten. Doll was los ist hier allerdings auch nicht. Es herrscht Beschaulichkeit statt Trubel, pulsierendes Leben sucht man vergebens. Den größten Pandemieschaden wird hier niemand darin sehen, dass das Kulturleben kollabiert ist und Konzerte ausfallen. Wer sollte diesen Ort mit nicht einmal 10.000 Einwohnern schon in seinen Tourplan aufnehmen?
Es gibt allerdings Ausnahmen: Für den Herbst war in Lüchow eigentlich ein Konzert des Gitarristen der Rolling Stones geplant. Ronnie Wood im Rock-’n’-Roll-Niemandsland zwischen Wiesen, Äckern und dem Flüsschen Jeetzel? In der Tat – genauer gesagt an einem Ort, der wie eine Fata Morgana wirkt: ein auffälliges Fachwerkhaus, das von großformatigen Fotos und weltbekannten Bildnissen geziert wird. Von der Hauptfassade blicken die Rolling Stones herab, von der Tür am Hinterausgang grüßt die „Voodoo Lounge“-Figur. Ein Balken trägt die Aufschrift „Stones Fan Museum“. Es ist das einzige Ausstellungshaus weltweit, das sich ausschließlich der legendären Rockband widmet – ausgerechnet hier im Wendland, das man eigentlich nur mit einer berühmt-berüchtigten Einrichtung verbindet: dem Atommülllager Gorleben. Doch das Museum ist kein Hirngespinst. Alles, was man hier antrifft, ist echt – die unzähligen Exponate genauso wie der Mann, dessen Konterfei groß an der Außenfassade prangt: Ulrich Schröder, der Chef des Stones Fan Museum, dessen Geschichte allein schon museumswürdig ist, weshalb er sie auch gern Besuchern erzählt.
Ulli Schröder wurde 1949 im benachbarten Uelzen geboren und ist seit seiner Pubertät Rolling-Stones-Fan. Als 15-Jähriger begleitete er die Band in drei von vier Städten auf ihrer ersten Deutschlandtour 1965. Das Geld hatte er sich zusammengespart. Obwohl seine Liebe zu den Stones – zum Leidwesen der Eltern – nicht nachließ, machte er eine Lehre als Bankkaufmann. Vermutlich wäre er bis zur Rente im Finanzgeschäft geblieben, hätte ihn nicht der Gitarrist seiner Lieblingsband 1997 gefragt: „Willst du ewig Banker bleiben, oder kannst du dir vorstellen, noch ein bisschen Geld mit sex and drugs and rock ’n’ roll zu verdienen?“. Ulli ließ sich nicht zweimal fragen: „Zu Hause musste ich meiner Frau erklären, warum ich an einem Wochenende in Dublin einfach meinen Beruf gewechselt hatte.“ Ihr Mann war nun nämlich der offizielle Galerist des nebenberuflichen Malers Ron Wood.
Zu verdanken hatte er dies seinem Interesse an Ronnies Kunstwerken, das ihn zur Kontaktaufnahme mit Woods Management bewogen hatte. Dort reagierte man mit Erstaunen und einer Einladung nach London und kurz darauf nach Dublin zur Party anlässlich Ronnies 50. Geburtstags. Fortan zählte der Deutsche nicht nur zum erlauchten Kreis um die Band, sondern tourte auch selbst als Aussteller mit den Bildern von Ron Wood durch Deutschland und Europa (unter anderem im Auftrag des 1995er Stones-Sponsors VW). Die Tatsache, dass ihn die Besucher immer wieder fragten, ob es nicht noch weitere Stones-Exponate zu sehen gäbe, brachte ihn schließlich auf die Idee, ein Museum zu eröffnen. Für Ulli stellte dies kein Problem dar, hatte er doch von früh an in der elterlichen Scheune Memorabilien der Band gesammelt – vom geklauten Tourplakat bis zu Unmengen an T-Shirts, die ihm auch Freunde von Konzerten mitbrachten, wenn er nicht selbst hinreisen konnte (was er bislang 201 Mal tat). „Ich ließ mir sogar Zeitungen mit Berichten mitbringen, denn das Stones-Gefühl muss anfassbar sein, das geht nicht im Internet – das ist wie tote Materie.“
Letztlich war es nur folgerichtig, das Museum dort einzurichten, wo seine Stones-Liebe einst ihren Anfang genommen hatte. Ulli Schröder mietete ein leer stehendes Supermarktgebäude in Lüchow, kaufte es dann sogar und war nach dem Umbau erst mal pleite. Nach einigem Hin und Her bewilligten die Stadtoberen – von denen noch niemand ein Konzert der Band besucht hatte – einen einmaligen Zuschuss unter der Bedingung, dass das Museum mindestens zehn Jahre bestehen würde.