Bruce Springsteens neues Album „Letter To You“ kommt überraschend. Doch wer in Corona- und US-Wahlkampf-Zeiten vom Boss ein waschechtes politisches Album wie einst „The Rising“ nach den 9/11-Anschlägen erwartet hatte, sieht sich getäuscht. Ist es auch kein „Brief“ zur aktuellen Lage der Welt, so handelt es sich bei „Letter To You“ doch um ein Album voller Weisheit, auf dem sich der Musiker intensiv mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Und für Enttäuschung besteht kein Grund: Auch wenn das verschneite Cover andere Assoziationen wecken kann, ist dieses musikalische „Schreiben“ das wohl energiegeladenste E-Street-Band-Album seit „Born In The U.S.A.“. Wir gehen auf Spurensuche und beleuchten den schmerzhaften Entstehungsprozess von „Letter To You“, widmen uns seinen schweren Themen, den hochkarätigen Songs und seinem besonderen Sound.
Allen personellen Verlusten zum Trotz: Die berühmteste Bar-Band der Welt ist zurück. Nach seinem größten kommerziellen Triumph mit „Born In The U.S.A.“ (1984) hatte der Boss seine famose Begleittruppe im Studio lange kurzgehalten und dafür lieber Soloalben wie „Tunnel Of Love“ (1987), „The Ghost Of Tom Joad“ (1995), „We Shall Overcome: The Seeger Sessions“ (2006) oder zuletzt das nostalgietrunkene „Western Stars“ (2019) herausgebracht. Auch auf "High Hopes" (2004), dem letzten Werk mit der E Street Band, spielte diese neben zahlreichen weiteren Musikern nicht die ihr sonst zugebilligte herausragende Rolle. Springsteens neues Werk ist eine kompromisslose Rückkehr zu seinem vor Kraft und Magie strotzenden Heartland Rock. Dem Mann aus New Jersey ist damit ein großer Wurf gelungen. Zugleich offenbart er darauf persönliche Dinge, die an seine Autobiografie „Born To Run“ (2016) anknüpfen.
Live im Studio wie noch nie zuvor
„Letter To You“ entstand innerhalb weniger Tage im November 2019 in Springsteens Heimstudio. Es war das erste Mal seit der „The River Tour“ 2016, dass die E Street Band und ihr Boss zusammenkamen. Vorausgegangen waren die Veröffentlichung von Springsteens Autobiografie „Born To Run“, verbunden mit intimen Ein-Mann-Shows am Broadway (2017/18), und das nostalgische Album „Western Stars“, das den alten amerikanischen Westen in der Cowboyart eines Glen Campbell beschwor. Springsteens 20. Studioalbum wartet nun endlich wieder mit dem klassischen E-Street-Sound auf. Mehr noch: Es ist so rau, ungeschliffen und kraftstrotzend, wie der Boss und seine Band auf einem Studioalbum zuletzt auf „The River“ (1980) geklungen haben. Im Pressestatement zur Veröffentlichung heißt es überschwänglich: „Ich liebe den emotionalen Charakter von ‚Letter To You‘, und ich liebe den Sound der E Street Band, die komplett live im Studio spielt, wie wir es noch nie zuvor gemacht haben, ohne Overdubs. Wir haben das Album in nur fünf Tagen aufgenommen, und es stellte sich als eines der großartigsten Aufnahmeerlebnisse heraus, die ich je hatte.“ Tatsächlich fehlt darauf keines der Erkennungszeichen der amerikanischen Rockinstitution: krachende Gitarren, röhrende Orgel, orgiastische Saxofonsoli, bimmelndes Glockenspiel und hämmerndes Piano. Dass nun der Neffe des 2011 verstorbenen Clarence Clemons ins Saxofon bläst und Charles Giordano statt des bereits 2008 verschiedenen Danny Federici die Orgelakkorde drückt, fällt kaum auf.
Ein Dinner mit Folgen
Die entscheidende Weichenstellung kam bei einem gemeinsamen Essen mit Keyboarder Roy Bittan, der (ähnlich wie schon Jahre zuvor Gitarrist Steve Van Zandt) eine nachdrückliche Bitte an seinen „Boss“ richtete: „Hey, Mann, mach keine Demos. Lass es uns so machen wie früher: Spiel uns einen Song vor, und lass ihn uns dann aufnehmen“ (Onlineausgabe des US-amerikanischen „Rolling Stone“ vom 20. September). Dieser Verzicht auf vorgefertigte Demos, die Springsteens Arbeiten von „Nebraska“ (1982) über „Tunnel Of Love“ (1987) bis hin zum Song „Streets Of Philadelphia“ (1994) und auch darüber hinaus gekennzeichnet hatten, führte dazu, dass der Songschreiber von allzu strikten Vorgaben und Arrangements absehen musste, die die E Street Band im Studio ausgebremst hätten. Springsteen selbst räumte ein: „Wenn ich Demos aufnehme, beginne ich, Dinge hinzuzufügen, um zu sehen, ob sie funktionieren, und plötzlich stecke ich in einem Arrangement fest. Und dann muss sich auch die Band in ein Arrangement einfügen, und mit einem Mal ist es kein E-Street-Band-Album mehr.“ Bei den aktuellen Aufnahmen ermutigte er die Band daher stattdessen, so zu spielen, wie es für sie typisch ist. Die langsame Entwicklung über „The Rising“ (2002) und „Magic“ (2007) zurück zum Bandteamwork machte vor allem den ewigen Kritiker Van Zandt glücklich: „Wir haben es endlich geschafft, zum sensiblen Zusammenspiel der Band zurückzukehren, bei dem Bruce sich wieder damit wohlfühlt, der Band zu vertrauen und wie ein Bandmitglied zu denken.“ Und auch Drummer Max Weinberg schwärmte: „Es war wie in den alten Tagen.“