Eine mysteriöse Anzeige in einem Londoner Lokalblatt, Lichtinstallationen in den Metropolen der Welt und InternetAnimationen rund um das Zungenlogo: Wochenlang hatten die Rolling Stones ihre weltweite Gemeinde wuschig gemacht. Dann ließen sie die Katze aus dem Sack: Bei einer spektakulären Pressekonferenz stellten Mick Jagger, Keith Richards und Ron Wood ihre neue Single „Angry“ vor und kündigten für den 20. Oktober das Studioalbum „Hackney Diamonds“ an, ihr erstes mit neuen Songs seit sage und schreibe 18 Jahren. Dazu hat die Band Ende September mit „Sweet Sounds Of Heaven“ eine weitere Single veröffentlicht. Die Stones sind wieder da – Protokoll einer kreativen Wiedergeburt.
Im Leben eines gewöhnlichen Menschen sind 18 Jahre eine lange Zeitspanne. Für einen Musiker können sie mehr als eine ganze Laufbahn bedeuten. Für die Rolling Stones indes sind 18 Jahre allenfalls eine Episode, eigentlich nur ein Wimpernschlag in der unendlichen, nun schon über mehr als 60 Jahre andauernden Saga dieser scheinbar ewigen Rockband. Was nicht heißt, dass in den Jahren seit 2005 nichts geschehen wäre.
Man schreibt den 6. September 2005, als Mick Jagger (62), Keith Richards (61), Charlie Watts (64) und Ron Wood (58) ihr neues Studioalbum „A Bigger Bang“, das 22. in ihrem Katalog, veröffentlichen. Die Welt ist damals, das lässt sich getrost behaupten, eine andere als heute: Weder gibt es das iPhone, noch denken die USA daran, einen afroamerikanischen Präsidenten zu wählen. Michael Schumacher fährt noch Formel-1-Rennen, Billie Eilish geht in den Kindergarten, und Angela Merkel ist noch nicht Bundeskanzlerin. Aber die Stones sind die Stones, lange schon, länger, als die meisten auch in jenem Spätsommer zurückdenken können. Der Spruch von der Sonne, dem Mond und den Rolling Stones, die immer schon da waren, ist auch 2005 bereits alt. Und die Kritik reagiert auf „A Bigger Bang“ allenfalls lauwarm. Spätestens seit „Tattoo You“ vor einem Vierteljahrhundert habe die Band ja ohnehin nichts Relevantes mehr zustande gebracht, so der Tenor. Neue Stones-Alben? Braucht kein Mensch mehr. Im besten Fall sind sie Alibiveranstaltungen für das eigentliche Kerngeschäft der Veteranen, nämlich regelmäßige Welttourneen zum Zweck solider Inkasso-Bilanzen.
Die Band selbst juckt das wenig. Ungerührt absolviert sie ihre „A Bigger Bang”-Welttournee, inklusive des europäischen Teils im Sommer 2006, nachdem sich Keith Richards von seinem berüchtigten Palmensturz im April auf den Fidschi-Inseln erholt hat. Als die Tour nach zwei Jahren und 147 Shows endet, denkt zunächst einmal niemand an neue Musik. Stattdessen wird Geld gezählt, die Einnahmen der Konzertreise betragen knapp 560 Millionen Dollar, seinerzeit Weltrekord. Die Rocklegenden gehen nun erst einmal ihren privaten Neigungen nach: Wenn er nicht gerade mit Promis wie Clint Eastwood oder Angelina Jolie diniert, besucht Mick Jagger Nachtclubs und Cricket-Spiele, Keith Richards lässt sich bei Konzerten von Kumpels blicken, tritt in „Fluch der Karibik“ auf und startet eine neue Karriere als Fotomodell für die Nobelmarke Louis Vuitton. Ron Wood indes säuft, bis er umfällt, fährt seine Ehe an die Wand und prügelt sich öffentlich mit seiner Kurzzeit-Affäre, der 20-jährigen Ekaterina Ivanowa. Und Charlie Watts tut, was er immer schon getan hat: Er spielt Jazz mit Freunden, zum Beispiel dem deutschen Pianisten Axel Zwingenberger, kauft Rassepferde in Polen und besucht gelegentlich seinen Schneider in der Savile Row. Zusammen lässt sich die Band nur zu besonderen Anlässen blicken, etwa als im Februar 2008 auf der Berlinale der von Martin Scorsese verantwortete Konzertfilm „Shine A Light“ vorgestellt wird, außer Konkurrenz, versteht sich.