In den nächtlichen Straßen von Chicago ordnet RYLEY WALKER sein Leben

1. Juni 2018

Ryley Walker

 In den nächtlichen Straßen von Chicago ordnet RYLEY WALKER sein Leben

Gut 20 Jahre ist es her, da war Chicago ein Mekka der genreübergreifenden Metamusik. Bands und Projekte wie Tortoise, Eleventh Dream Day, Town & Country, Isotope 217, The Sea And Cake, Gastr del Sol, Red Red Meat oder The Red Crayola fanden immer neue Kombinationen aus Rock, Jazz, Neuer Musik, Techno, freier Improvisation, Country, Blues und vielem mehr. Aus reiner Hilflosigkeit erfand man für diesen Mix damals die Begriffskrücke Post-Rock. Der Sänger, Gitarrist und Songwriter Ryley Walker ist eine Generation jünger als die Musiker der genannten Projekte, aber genau an deren Ästhetik will er anschließen. Die neun Songs seines neuen Albums schlagen verblüffende, oft keiner offensichtlichen Logik folgende Brücken zwischen all den genannten Aggregatzuständen. „Ich orientierte mich stark an Bands wie The Red Crayola, Gastr del Sol, Isotope 217 oder den frühen Tortoise“, bestätigt Walker seine groß angelegte Klangverwirrung. „Jim O’Rourke konnte diese wunderbaren Popmelodien schreiben, und im nächsten Moment spielte er einen frei improvisierten Gig. Das stand sich nicht im Weg. Ich finde das sehr inspirierend, und ich wollte auf die gleiche Weise Verbindungen zwischen den Auffassungen von John Fahey und Derek Bailey finden. Etwas, das zur gleichen Zeit Glück und Depression repräsentiert.“

Wer Walkers letzte Alben „Primrose Green“ und „Golden Sings That Have Been Sung“ kennt, weiß, dass er schon seit Langem ungewöhnliche Scharniere zwischen britischem Folk à la Bert Jansch und dem US-Jazz der Sechziger – im Spannungsfeld von Andrew Hill und John Coltrane – findet. Auf „Deafman Glance“ hat er indes eine neue Dramaturgie entwickelt. Die Stimmung ist introvertiert bis gedrückt. Die Songs mäandern durch unerforschte Klangebenen, auf denen sich seine Texte wie demütig vorgetragene Gedankenketten ausbreiten. Leicht macht er es weder sich noch seinen Hörern. Er wirkt wie der Baumeister eines Märchenschlosses, der es den Besuchern überlässt, sich durch Dornen und Gestrüpp selbst den Zugang zu erkämpfen. Doch hat man den Durchschlupf zum Innersten einmal gefunden, wird man in jedem Winkel reich belohnt. Obwohl Walker keinen konkreten Jazzvorbildern folgt, ist die Gesamtanmutung von „Deafman Glance“ viel jazziger als zuvor. „Auf den beiden letzten Platten ging ich viel planvoller vor“, vergleicht Walker. „Da hatte ich die Songs schon seit Monaten live ausprobiert und wusste genau, was im Studio passieren soll. Diesmal hatte ich überhaupt nichts in der Hand. Ich wusste nur, ich will eine neue Platte machen. Deshalb hat es so lange gedauert, bis ich fertig war. Meine einzige Vorgabe bestand darin, mich ein Stückweit von dem Folksound der früheren CDs zu entfernen. Ich wollte mehr meine Persönlichkeit repräsentieren.“

Lest mehr im aktuellen Heft...