Peter Gabriel ist zweifellos einer der innovativsten wie wagemutigsten Musiker, der bei jedem seiner bisherigen Alben einen gewaltigen künstlerischen Schritt nach vorne ging. Schon seit frühen Genesis-Tagen verstand er Rockmusik als multimediale Kunstform, die er zunehmend durch technische Neuerungen und visionäre Bühnenkonstruktionen erweiterte. Auf seinen Studiowerken bezog er als Menschenrechtsaktivist ab den 1980ern immer stärker gesellschaftspolitisch Stellung, experimentierte als Klangpionier mit modernen elektronischen Keyboardtechnologien, kreierte unorthodoxe Rhythmusstrukturen und integrierte insbesondere aus Afrika stammende weltmusikalische Klänge. Angesichts ihrer runden Jubiläen diskutieren wir das Innovationspotenzial seiner Alben „IV“ (1982) und „US“ (1992) im Kontext ihrer jeweiligen Zeit.
Peter Gabriel »IV« Zwischen Archaik & moderner Technik
1982 veröffentlichte Peter Gabriel sein in vielerlei Hinsicht bahnbrechendes viertes Soloalbum – ein Werk, das seinen musikalischen Weg in den folgenden vierzig Jahren entscheidend prägen sollte.
„Ich denke, dass die Dritte Welt einen stetig wachsenden Einfluss auf unsere eigene Kultur haben wird. Auf die Musik bezogen heißt das, dass ein interessanter Hybrid aus nichteuropäischen Einflüssen und sehr, sehr günstiger neuer Technologie entstehen wird.“ Dieser Satz, den Peter Gabriel im Zusammenhang mit der Veröffentlichung seines vierten Soloalbums äußerte, beschreibt das allgemein als „Peter Gabriel IV“ bekannt gewordene Werk – in den USA bekam es auf Betreiben seines dortigen Labelchefs David Geffen den Titel „Security“ – auf sehr anschauliche Art und Weise. Einerseits nutzte der Musiker darauf nämlich die Möglichkeiten, die ihm in Gestalt des Fairlight-CMI-Synthesizers geboten wurden, den er Ende der 70er-Jahre für sich entdeckt und bereits 1980 auf seinem dritten Album zum Einsatz gebracht hatte. Zeitgleich hatte Kate Bush mit ihrem Album „Never For Ever“ das Instrument einem größeren Publikum schmackhaft gemacht und anschließend, im Gleichschritt mit ihrem späteren Duettpartner Gabriel, mit „The Dreaming“ ebenfalls ein neues, vom Fairlight CMI dominiertes Album eingespielt Peter Gabriels Aufnahmen für „IV“ wurden vom britischen TV-Magazin „The South Bank Show“ filmisch dokumentiert. „Gabriel hatte sichtlich viel Spaß daran, Windschutzscheiben und Fernseher zu zerschlagen, um die Klänge davon auf Band zu bannen“, kommentiert sein Biograf Daryl Easlea.
Auf der anderen Seite ist da das menschliche Element in Form des großen Einflusses vor allem afrikanischer Musik. Zwei Jahre zuvor hatten die Talking Heads mit ihrem Album „Remain In Light“ die afrikanische Polyrhythmik im größeren Stil in die Popmusik eingeführt, woran sich 1981 David Byrnes Gemeinschaftsprojekt mit Brian Eno „My Life In The Bush Of Ghosts“ angeschlossen hatte. Dieser Sound begeisterte Gabriel nicht nur als solcher, ihn reizten die kulturellen Kontexte, die er erschloss. Anders als etwa Paul Simon, der vier Jahre später auf „Graceland“ die afrikanische Rhythmik mit westlichem Songwriting und New Yorker Befindlichkeitslyrik konterkarierte, ließ sich Gabriel bei Songstrukturen und Texten auf die Ästhetik der anderen Musikkultur ein – wobei er sich nicht auf Afrika beschränkte, sondern etwa in „San Jacinto“ auch die schamanischen Rituale amerikanischer Ureinwohner thematisierte.
16 Monate in Bath
Gabriel produzierte sein Album gemeinsam mit dem in Bath ansässigen Komponisten, Arrangeur und Musikdozenten David Lord. Dieser hatte dort 1979 die Crescent Studios eröffnet, die urplötzlich zum Anziehungspunkt einer wachsenden Anzahl künstlerisch beflissener Popmusiker wurden, zu denen neben Gabriel u. a. Peter Hammill und die jungen Tears For Fears zählten. Dabei hatte Lord zuvor mit Rockmusik wenig am Hut gehabt: „Als Gabriel zum ersten Mal bei mir vor der Tür stand, weil er eine Transkription für seine Ex-Band Genesis von mir wollte, kannte ich deren Musik überhaupt nicht“, erinnert er sich. Es kam zu einer engen Zusammenarbeit, die nach der Fertigstellung des Albums allerdings einen bitteren Nachgeschmack hatte, da Lord eine Affäre mit Gabriels Frau Jill einging.
Gemeinsam mit Musikern wie Tony Levin am Bass und Jerry Marotta an Drums und Percussion arbeiteten die beiden ganze 16 Monate an dem Album. Die lange Zeitspanne verwundert nicht, wenn man sich etwa Gabriels Methode bei den Gesangsaufnahmen vor Augen führt: „Wir haben für einen Song circa 16 Takes des Gesangs angefertigt“, erinnert sich Lord, „und dann haben wir jede Zeile, jedes Wort, ja jede Silbe mit bis zu 10 Punkten bewertet. Und es war nicht so, dass da immer eine 3 oder eine 9 herauskam, nein, es waren 6 ½ oder 6 ¾! Letztlich haben wir die Gesangsparts aus kleinsten Versatzstücken zusammengeschnitten.“ Diesem Perfektionismus frönte Gabriel auch in seinem neu eingerichteten Heimstudio, wo er seiner Fairlight-CMI-Begeisterung freien Lauf lassen konnte. So basiert beispielsweise „The Family And The Fishing Net“ auf einem äthiopischen Percussionmotiv, über das der Song arrangiert wurde.