SINGLE CELLED ORGANISM - Empathische Endzeitstory

SINGLE CELLED ORGANISM - Empathische Endzeitstory

Produzent und Musiker Jens Lueck veröffentlicht mit seinem Projekt Single Celled Organism den bereits dritten Teil seiner ambitionierten Endzeitstory um ein fragwürdiges wissenschaftliches Experiment, in dessen Zentrum das Mädchen Tella steht. Die musste lange Zeit von menschlicher Gemeinschaft isoliert aufwachsen. Schließlich kann sie das Versuchslabor verlassen, doch durch ein künstliches Virus wurden 95 Prozent der Menschheit ausgelöscht. Nach „Splinter In The Eye“ (2017) und „Percipio Ergo Sum“ (2021) spinnt Lueck die Geschichte weiter und legt nun ein deutliches Augenmerk auf die zwischenmenschliche Ebene insbesondere der Empathiefähigkeit, stellt dabei auch aktuelle Bezüge zu Krisensituationen wie dem Klimawandel, Verschwörungstheorien und gar dem Ukrainekrieg her. Mit „Event Horizon“ ist ihm zudem musikalisch sein bisher reifstes Werk zwischen Prog und Artrock gelungen.

eclipsed: „Event Horizon“ kennt man aus SciFi-Filmen und astronomischen Zusammenhängen. Du meinst damit aber offensichtlich sehr individuelle Ereignishorizonte in psychologischen Dimensionen, insbesondere in schweren Krisensituationen.

Jens Lueck: Genau! Es geht mir um die Aspekte in der menschlichen Wahrnehmung, die sich außerhalb der uns bewussten Realität befinden. Das können Emotionen sein, die uns unbewusst steuern, aber auch ganz einfache Dinge, mit denen wir uns nie aktiv beschäftigt haben, weil sie hinter einer gewissen Grenze liegen, die meistens durch unsere gewohnten und erlernten Denkprozesse entsteht.

eclipsed: Das Album ist bereits das dritte deiner groß angelegten „Kaspar Hauser-Syndrom“-SciFi-Story um Tella, dem „TV-Girl“ und Dr. Abbott Barnaby. Gibt es eigentlich einen übergeordneten Namen für diese Story? Wie bspw. bei Isaac Asimov der „Foundation“-Zyklus.

Lueck: Tatsächlich nicht, denn ursprünglich war das erste Album als abgeschlossene Geschichte gedacht. Ich muss zugeben, dass ich mich in die beiden Charaktere „TV-Girl“ Tella, und den Forscher Dr. Barnaby ein bisschen verliebt habe, weil sie durch ihre Unterschiedlichkeit eine hervorragende Plattform bieten, Dinge auszudrücken. Deshalb ist schließlich die Idee für weitere Parts entstanden.

eclipsed: Kannst du den Inhalt der dritten Story in wenigen Sätzen zusammenfassen?

Lueck: Es geht um die erste Begegnung der beiden Hauptprotagonisten, seit Tella aus dem Versuchstrakt entkommen „in Freiheit“ ist. Ebenso um die Gedanken der beiden und ihre Emotionen vor und nach dem Treffen, das völlig anders verläuft als von Barnaby geplant bzw. von Tella vermutet. Wichtig ist mir der Umstand, dass keiner der beiden in irgendeiner Form die Fähigkeit besitzt, sich in den anderen hineinzuversetzen. Sie sind emotional überfordert und nicht in der Lage, über einen gewissen „Horizont“ hinweg zu sehen.

eclipsed: Zentraler Dreh- und Angelpunkt scheint dieses Mal die Auseinandersetzung von Tella mit Barnaby zu sein, dem sie Empathielosigkeit vorwirft, da er ja nicht nur der Forschungsleiter des ethisch problematischen Menschenexperimentes, sondern auch ihr biologischer Vater ist. Sind Empathielosigkeit und entgrenzte Wissenschaft die Meta-Themen der Story?

Lueck: Nein, letzteres keinesfalls! Natürlich gibt es Wissenschaftler, die den Blick für das Ganze verlieren und extrem fragwürdige Wege einschlagen. Aber ich glaube, dass die intensive Beschäftigung mit Wissenschaft an sich eher zu mehr Empathie und sogar zu einem großen Respekt vor der Schöpfung und der Natur wie dem ganzen Universum führt. Das übergeordnete Thema ist tatsächlich die Unfähigkeit des Menschen (teilweise der ganzen Gesellschaft) Grenzen im Denken und in der Wahrnehmung zu überschreiten.

eclipsed: Wie geht die Story weiter? Wie viele Teile hast du noch geplant?

Lueck: Es wird noch einen letzten Teil geben; worum es geht, wird noch nicht verraten! (lacht)

eclipsed: Du stellst auch eine Verbindung zu Klimakrise, Verschwörungstheorien und gar dem Ukrainekrieg her, um den Blick auf das globale Miteinander zu richten. Bitte erläutere das doch etwas genauer…

Lueck: Beispiel Klimakrise: Die meisten kennen die Stichworte „Kipppunkte“, „ökologischer Fußabdruck“, usw., und viele wissen um deren inhaltliche Bedeutung, gerade in der Politik. Aber irgendwie gibt es eine unsichtbare Grenze, die verhindert, dass gehandelt wird. Die Konsequenzen liegen hinter einem „Horizont“, der verhindert, dass sie wirklich vorstellbar werden. Beispiel Ukraine: Zu Beginn wurde von vielen Politikern, Beratern und Co. immer wieder ein Satz gesagt, der in etwa so lautet: „Wir müssen Putin klar machen, dass es hier eine rote Linie gibt!“.... Zustimmung von allen Seiten. Ich habe mich gefragt: „Und was heißt das jetzt, wie soll man das umsetzen? Wie will man einen Despoten - von dem man nicht weiß, ob er wie Hitler am Ende nicht auch bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen, nämlich den eigenen Tod einzuschließen - in die Schranken weisen, wenn er Atomwaffen besitzt? Aus meiner Sicht ist das faktisch unmöglich! Auch hier hatte ich wieder den Eindruck, dass eine Grenze des Denkens existiert, an der man einfach stoppt. Was Verschwörungstheorien angeht - und davor habe ich schon vor vielen Jahren gewarnt -, fehlt mir in der Gesellschaft eine deutliche Auseinandersetzung mit den Menschen, die solchen Theorien anhängen. Sie werden als Spinner abgetan und irgendwann ist es zu spät, und dann kommt man mit keinem Argument mehr zu ihnen durch. Ich wünsche mir, dass man gleich zu Beginn eingreift, diskutiert, beweisbare Fakten ins Spiel bringt, denn die Verschwörungstheoretiker sind eine große Gefahr für die gesamte Gesellschaft und die Demokratie.

eclipsed: Musikalisch bleibst du im gleichen Modus zwischen vertrackterem, manchmal auch düsterem Prog und atmosphärisch floydigem Artrock. Vielleicht ist dir sogar das bisher beste SCO-Werk gelungen. Würden sich auch sinfonischere oder elektronischere Töne für die Story anbieten?

Lueck: Sinfonische Elemente waren ja z.B. auf „Splinter In The Eye“ stark vertreten, d.h. echte Streicher mit einer per Overdubs realisierten kompletten Orchestersimulation. Elektronik taucht in der Percussion von „Humble“ auf „Percipio Ergo Sum“ und aktuell in „Shifted“ auf. Ich gehe an die Form der Umsetzung eigentlich nicht mit einem vorab festgelegten Konzept, sondern schaue immer, was das jeweilige Stück braucht. Von daher: Gut möglich, dass die Zukunft solche Elemente nochmal verstärkt aufs Tableau bringt.

eclipsed: „Memories In A Box“ ist ein tolles Stück in wunderbarer klassischer Genesis-Manier. War das bewusst so konzipiert?

Lueck: Die alten Genesis sind mit Pink Floyd und J.S. Bach zusammen meine größten musikalischen Prägungen. Von daher passiert das einfach. 

eclipsed: Gerade die Leadgitarrensoli sind hervorragend. Legst du da besonderen Wert darauf?

Lueck: Die Hälfte der Soli sind von Ingo Salzmann, ein früherer musikalischer Weggefährte aus den 90ern, der heute nur noch im stillen Kämmerlein Musik macht – welch Frevel! Die andere Hälfte hat Johnny Beck gespielt. Johnnys Soli sind von mir „vorgegeben“; denn im Herzen bin ich Gitarrist, obwohl ich das Instrument nur rudimentär beherrsche. Aber ich kann mich sehr gut in die Gitarre eindenken und liebe es, Soli zu kreieren. Ingo spielt zu neunzig Prozent von ihm entworfene Soli, denn er hat einen ganz eigenen Stil, den ich sehr mag.

eclipsed: Dein musikalisches Team ist ja im Grunde das Gleiche geblieben. Hättest du gerne mal einen anderen Gastsänger/in oder -Musiker/in, die du nicht bekommst?

Lueck: Ich bin eigentlich sehr glücklich mit den Musikern um mich herum – die sind alle fantastisch. Aber mal einen Tony Levin am Bass und Chapman-Stick zu haben, wäre genial. Ich liebe seine absolut eigenständige Art, Bass zu spielen!

eclipsed: Dein eigener Schlagzeugstil erinnert positiv an eine Mischung aus Neil Peart und Phil Collins. Was sind deine persönlichen Vorbilder?

Lueck: Definitiv Herr Collins, aber was polyrhythmische Einflüsse angeht, auch Gavin Harrison. Mit Rush wurde ich nie warm.

eclipsed: „Distorted Nights“ ist ein angejazztes Instrumental und offeriert etwas andere Töne. Wie kam es dazu?

Lueck: In der Tat ist es das zuletzt entstandene Stück des Albums. Ich hatte das Gefühl, dass es an dieser Stelle nochmal etwas „Dampf“ braucht, um einen vernünftigen Spannungsbogen über das gesamte Album hinweg zu haben. 

eclipsed: Das Titelstück ist großes Prog-Kino, Raumgeräusche verbinden die Stücke miteinander und schaffen so eine cineastische Atmosphäre. Kannst du dir eine filmische Umsetzung deiner Story vorstellen?

Lueck: So etwas wäre natürlich ein Traum! Am besten in einer unkonventionellen Form zwischen Musikvideo und Film. Gerne im Terry-Gilliam-Stil (lacht).

* * * Interview: Walter Sehrer