EARTHSIDE - Nichts als die Wahrheit

5. Dezember 2023

Earthside

EARTHSIDE - Nichts als die Wahrheit

Es herrschte eine seltene Einigkeit in der Redaktion, als „Let The Truth Speak“ in der letzten Ausgabe zum Album des Monats gekürt wurde. Kein Wunder, strecken die aus Connecticut stammenden Earthside doch ihre Fühler weit über das Progressive-Metal-Genre hinweg aus. Ein ebenso dichtes wie tiefgründiges Werk, über das sich ein ebenso tiefgründiges Gespräch mit Gitarrist und Orchestrator Jamie van Dyck entwickelt, der übrigens am Tag nach dem Interview seinen 36. Geburtstag feiern durfte.

eclipsed: Jamie, euer erstes Album habt ihr in Eigenregie veröffentlicht. Jetzt seid ihr mit Music Theories/Mascot bei einem renommierten Label untergekommen. Wie kommt es?

Jamie van Dyck: Es war ursprünglich nicht unsere Absicht, das Debüt selbst zu veröffentlichen. Wir gingen davon aus, dass wir es – insbesondere, da ja einige namhafte Gäste mit dabei waren – etwas einfacher als andere neue Bands haben würden. Aber es war schwierig, die Aufmerksamkeit der Plattenfirmen zu bekommen. Tatsächlich war Music Theories/Mascot das einzige Label, das sich überlegte, uns unter Vertrag zu nehmen. Schlussendlich kam es nicht dazu, aber wir blieben in Kontakt und somit auf deren Radar. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass wir erst unter Vertrag genommen wurden, als das neue Album bereits fast komplett fertig war. Insofern besitzt es aus Business-Sicht eine Übergangsfunktion. Das dritte Album wird das erste sein, das von Anfang an von einem Label begleitet wird. Und von einem Manager, denn Lulu Davis kam auch erst ungefähr zur Halbzeit dazu. Dies bedeutet, dass der Prozess wahrscheinlich „traditioneller“ ausfallen wird, mit Deadlines und alledem. Und das wird allen Beteiligten gut tun. Die enormen Risiken, die riesige Bandbreite an Gästen, all das wird wahrscheinlich so nicht ein weiteres Mal stattfinden. Aus verschiedenen Gründen, von denen einer der wichtigsten ist, dass keiner von uns sich nochmals acht Jahre in seinem Labor verkriechen wird, um Dinge wieder und wieder zu perfektionieren. Um jedes Detail zu ringen und ständig darauf zu warten, ob sich sein Lieblingsgastsänger melden wird oder nicht. Wir sind unheimlich stolz auf „Let The Truth Speak“. Aber wir können das alles nicht ein zweites Mal durchmachen. 

eclipsed: Dazu passt die Aussage eures Keyboarders Frank Sacramone, der im Presseinfo mit den Worten „Dieses Album hat fast unser Leben und unsere Freundschaften zerstört“ zitiert wird.

Van Dyck: Unser erstes Album wurde generell sehr positiv aufgenommen. Wir wussten also, dass wir die Messlatte schon sehr hoch gelegt hatten. Aber wir sind fast schon zwanghaft perfektionistisch, und diesmal wurde keine „Das passt, aber hätte ich es doch nur etwas mehr in die oder jene Richtung optimiert, dann wäre ich richtig glücklich“-Stelle mehr akzeptiert. Jedes „Gut“ war nicht gut genug. Das kann für alle Beteiligten unglaublich frustrierend sein. Sicher, dieses obsessive Element, das wird auch bei einem dritten Album vorhanden sein. Aber wir müssen dieses Zwanghafte ein Stück weit heilen und lernen, nicht jeden verdammten kleinen Stein tausendmal umzudrehen. Das ist wie eine Art kreative Geisteskrankheit, die uns zu einem Haufen Psychos gemacht hat. Ihr gaben wir uns auf „Let The Truth Speak“ vollständig hin. Was aber auch heißt: Wir müssen das nicht noch einmal machen. Das ist abgehakt. Aber auch deshalb hat es so lange gedauert. Etwas wie bei der „sunk-cost-fallacy“, wie man sie nennt: „Die Kosten, die nicht zurückgewonnen werden, sind eh da. Also müssen und können wir erst recht so lange daran arbeiten, bis alles komplett perfekt ist“. Damit rechtfertigten wir unser ineffizientes Verhalten, das uns davon abhielt zu sagen: Das ist gut, raus damit, für unsere Karriere, für unsere Gesundheit, für unser Leben. Das war wirklich ein emotionales Päckchen, das wir zu tragen hatten. Und für alle, die mit uns arbeiteten, sicher nicht einfach. Denn wir waren ja nie zufrieden. Jetzt im Nachhinein ist es allerdings schwer zu sagen: Wäre dieses Album „nur“ ein sehr gutes, wenn es in zwei oder drei Jahren anstatt in acht entstanden wäre? Oder wäre es genauso bei euch zum „Album des Monats“ gekürt worden? Man weiß es nicht. Wobei ich schon denke, dass diese Detailversessenheit, dieses ständige qualvolle Ringen mit jeder einzelnen Entscheidung, dazu beigetragen hat, dass dieses Album so monumental, von einem ungebändigten Willen angetrieben, klingt. Ja, es ist ein „Mehr ist mehr“-Ansatz gewesen. Aber einer, der in jedem Moment zum emotionalen Erlebnis beiträgt, anstatt extravagant zu werden. 

eclipsed: Die vielen Gäste, die auf dem Album zu hören sind, bilden eine große Bandbreite ab. Hattet ihr die Gäste schon während des Schreibens im Kopf?

Van Dyck: Auf beiden Alben ist es so, dass wir bis auf wenige Ausnahmen zuerst die Songs schrieben, und dann nach passenden Gästen Ausschau hielten. Das war übrigens auch einer der Hauptgründe, warum es solange dauerte. Das ewige Warten. Du hast einen Wunschsänger gefunden und kontaktierst ihn. Du bekommst keine Antwort. Du schreibst nochmals. Dann kommt ein „Mal schauen“. Dann plötzlich: „Nein, es klappt nicht“. Dann suchst du jemand Neues. Obwohl ein Teil von dir genau diesen Sänger möchte und „Nein“ nicht als Antwort akzeptiert. Also zögerst du, wie du weitermachen sollst. Auch die Pandemie hat diesbezüglich für einiges an Durcheinander gesorgt. Im August 2020 waren ungefähr 97% der Platte instrumental aufgenommen. Es fehlten nur noch Kleinigkeiten. Aber wir hatten kaum Gastsänger. Also entschieden wir – auch trotz des Hinweises, dass es vielleicht nicht die professionellste Vorgehensweise sei – über meine facebook-Seite einen Aufruf zu starten. Wir zögerten zunächst, aber es war ein Akt der Verzweiflung. Ich habe über diese Seite Kontakt zu einer Menge Earthside-Fans. Und eine der tollen Sachen, wenn du im Prog-Business aktiv bist, ist die, dass deine Fans zu den sachkundigsten und neugierigsten der gesamten Musikszene zählen. Sie kennen viele Genres, widmen sich der Musik, analysieren sie, lieben sie. Also fragte ich sie nach Empfehlungen, insbesondere außerhalb des Genres, in dem wir uns bewegen. Keine Leute aus der Prog-Welt, von denen sie sich wünschen würden, dass wir mit ihnen arbeiten. Sondern Sänger, die etwas ganz Spezielles besitzen. Ich bekam über 1000 Kommentare. Manche empfahlen sich selbst, manche die Kollegen aus ihrer eigenen Band, manche Vokalisten aus dem Pop, aus der Klassik, aus der Weltmusik. Und so weiter. Ich benötigte mehr als vier Monate, um all die Kommentare auszuwerten und mir einige der Empfehlungen anzuhören. Es ging ja nicht nur darum, ob sie gut oder spannend sind, sondern darum, ob wir einen Song hatten, dessen emotionale Wirkung sie mit ihrem Gesang auf eine neue Ebene heben konnten. Das war ein langer Prozess. Aber so entdeckten wir zum Beispiel Keturah Johnson. Wir wussten nicht, wer sie war. Auch auf Pritam Adhikary und Gennady Tkachenko-Papizh stießen wir über diese Aktion. Und AJ Channer von Fire From The Gods kannten wir zwar, aber wir dachten erst an ihn, als er immer wieder in den Kommentaren auftauchte. Insgesamt vier Gäste kamen also durch diesen Post zu uns, und sie brachten das Album voran, gaben ihm mehr Vielfalt. Und es passt auch: „Let The Truth Speak“ ist ein globales, universelles, menschliches Album. Und schau, wir heißen Earthside. Menschen aus verschiedenen Kulturen und Genres dabei zu haben, ist schlüssig. Sandbox Percussion und das Duo Scorpio sind übrigens aus der Klassikszene von New York City. Im Falle von Sandbox Percussion ist es so, dass sie wie ich in Yale studiert haben. Einer von ihnen hat sogar auf einem Stück mitgespielt, dass ich am College schrieb. Und drei von vier sind im Video von „Mob Mentality“ vom Debüt zu sehen. Denn im Video ist nicht das Orchester zu sehen, dass auf dem Album spielt, sondern eine Auswahl an Musikern aus New York. „Denial’s Aria“, den Song mit Duo Scorpio, schrieb ich übrigens und wusste bereits, dass zwei Harfen involviert sein sollten. Auch im Eröffnungsstück hatte ich Sandbox Percussion schon im Kopf, als ich die Nummer verfasste. Eine Ausnahmestellung besitzt auch „The Lesser Evil“: Ben, unser Drummer, wuchs mit Tower Of Power auf, sein Vater war ein großer Fan. Und er schrieb das Stück mit der festen Idee, Larry Braggs dazu zu bringen, „Ja“ zu einem Gastbeitrag zu sagen. Wir versuchten über drei verschiedene Quellen fast zwei Jahre lang, an ihn ranzukommen. Schlußendlich klappte es. Aber es gab auch andere Entwicklungen: Für „We Who Lament“ hatten wir ursprünglich einen Sänger im Kopf, dessen Ausdruck an Jeff Buckley erinnert. Aber er erteilte uns eine Absage. Keturah ist für uns wie eine Art rauchiger Jeff Buckley mit einer Prise Janis Joplin und etwas Ansatz von Björk.

eclipsed: „Let The Truth Speak“ hat eine starke textliche Botschaft. Ist es ein Konzeptalbum?

Van Dyck: Das mit dem Thema hat sich über die Jahre hinweg entwickelt. Wir fingen Ende 2016 an, an dem Album zu schreiben. Das war die Zeit, als in den USA die Wahl zwischen Donald Trump und Hillary Clinton stattfand. Und als die Konsequenzen sich bemerkbar machten, im politischen Klima nicht nur der USA, sondern der ganzen Welt. Viele unserer Texte entstanden allerdings erst, nachdem wir den entsprechenden Gastsänger und damit die Gesangsmelodien hatten. Denn es ist bei uns schon so, dass die Musik zuerst kommt, und die Texte ihr folgen. Als die Pandemie eintraf, waren also viele Texte noch nicht geschrieben. Den Titel hatten wir aber schon, dieses „Truth“-Thema stand oben. Nicht nur als politische Wahrheit, sondern auch im alltäglichen Leben, wenn Menschen miteinander interagieren. Diese ganzen Konflikte, die ganzen Echos darauf. Die Pandemie hätte das Zeug dazu gehabt, uns alle zu vereinigen. Hat sie vielleicht sogar für einen kurzen Zeitraum. Aber schnell wandelte sich die Sache und alles hing davon ab, welchem Flügel du angehörst. Was soll ich glauben? Diese ganzen Fragen zum Virus, zu Masken, zu Impfungen sollten nichts damit zu tun haben, wofür politische Kandidaten stehen. Aber genauso kam es. Diese Ereignisse zementierten die textliche Ausformung. Ich würde es nicht als Konzeptalbum bezeichnen, sondern als thematisches Album, eine emotionale Reaktion auf diese Entwicklungen. Ein Konzeptalbum versucht offensichtlicher, dich durch eine Story zu führen. Es ist konkreter in seiner Gesamtheit strukturiert. Dieses Album hat einen generellen Bogen, aber keine spezifische Unterteilung in Anfang, Mitte, Ende, oder so. Es bleibt für den Hörer offen, er kann seinen eigenen Sinn, seine eigenen Erfahrungen hineinpacken. Gerade zu Beginn werden ja auch viele Fragen aufgeworfen. „A Dream In Static“ hatte viele „Ich“-Referenzen. „Let The Truth Speak“ dreht sich mehr um das „Wir“ und „Uns“. Es ist ein Aufruf an die Menschheit, sich einen Moment selbst zu reflektieren und zu hinterfragen, warum wir Dinge akzeptieren oder ablehnen. Sich zu ermutigen herauszufinden, wie wir Dinge besser machen können. In einem anderen Menschen nicht das Hindernis zu sehen, sondern die Möglichkeit, Dinge klarer zu sehen. 

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