MARILLION - Die letzte Stunde vor Mitternacht

14. März 2022

Marillion

MARILLION - Die letzte Stunde vor Mitternacht

Schon 2016 machten sich Marillion auf „FEAR“ ernsthaft Sorgen um die Zukunft der Menschheit. Auf ihrem neuen Werk „An Hour Before It’s Dark“ bewegen sich die Zeiger ihrer persönlichen Weltuntergangsuhr nun bedrohlich auf kurz vor zwölf zu. Die allgegenwärtige Pandemie, drohende Klimakatastrophe und generelle Endzeitstimmung machen sich unmissverständlich breit auf einem Album, das musikalisch allerdings umso mehr mit größerer Dynamik sowie neuen Farben und Tönen beeindruckt. Zum großen Roundtable konnten wir sämtliche Ritter der Marillion-Tafelrunde versammeln: Sänger Steve Hogarth, Gitarrist Steve Rothery, Keyboarder Mark Kelly, Bassist Pete Trewavas und Drummer Ian Mosley. Darüberhinaus nahmen sich die Herren Rothery und Kelly die Zeit für ein paar persönliche Nachfragen, bei letzterem zu seiner im Januar erschienenen Autobiografie, Textauszug inklusive.

Auf „FEAR“ diskutierten Marillion herannahende politische, soziale, humanitäre und ökologische Verwerfungen, allerdings ohne ahnen zu können, welche Herausforderungen die folgenden Jahre gerade in Sachen Klimapolitik und Pandemiebewältigung dann tatsächlich mit sich bringen würden. Auch für die Arbeit am neuen Album brachten Lockdowns eine Veränderung in der Bandchemie mit sich, da Steve Rothery im Studio zeitweise nicht anwesend war. Mark Kelly wiederum nutzte frei gewordene Zeit, um seine Autobiografie fertigzustellen (siehe Kasten). Beim Roundtable diskutieren wir mit allen Bandmitgliedern die Songs und Inhalte des Albums. Neue musikalische Facetten wie die Hinzunahme eines Chors und Leonard-Cohen-Anleihen kommen ebenso zur Sprache wie der Aufnahmeprozess, der sich bei Marillion wie immer aus dem gemeinsamen Jammen heraus entwickelt hat. Trotz der heiklen Themen ist die Stimmung bei allen Akteuren freundschaftlich und voller gegenseitiger Wertschätzung. Und auch eclipsed gegenüber drückt die Band Verbundenheit aus und zeigt sich ob der jahrelangen Unterstützung dankbar.

Das Konzept: Endzeitstimmung – eine Minute vor zwölf

eclipsed: Reden wir über das Konzept, die Songs und die Themen des neuen Albums: Ihr präsentiert uns ein musikalisches Äquivalent zur einstigen Atomkriegs-, nun Weltuntergangsuhr, die uns anzeigt, dass es fünf Minuten vor zwölf ist. Thematisiert ihr vor allem die drohende menschengemachte Klimakatastrophe und die pandemischen Herausforderungen unserer Konsumgesellschaft, oder wollt ihr auch auf einen anderen Kontext hinweisen wie die letzte Stunde eines Menschenlebens?

Steve Hogarth: All das! Der letzte Song des Albums, „Care“, dreht sich tatsächlich um die letzten Lebensmomente. Es geht ums Sterben, und das ist inspiriert vom fortschreitenden Lebensalter und der Pandemie-Situation. Ganz zu Beginn nahm ich mir vor, nicht zu viel über die Pandemie zu schreiben, aber das erwies sich schlicht als unmöglich. Selbst die Stücke, die ursprünglich keinen Bezug dazu hatten, begannen sich darauf zu beziehen. Es schlich sich überall hinein. Es war einfach unser aller Realität.

Ian Mosley: Steve wollte ja nicht über die Pandemie schreiben, weil jeder die Nase voll davon hat. Aber dann konnte er wohl doch nicht anders, es kam beim Schreiben wohl immer hoch. Meiner Meinung nach hat er es aber geschafft, sehr assoziative Texte zu schreiben, die viele aktuelle Themen ansprechen. Übrigens verweist der Titel ja nicht nur auf die von dir erwähnte Uhr, sondern auch auf eine häufig verwendete englische Phrase: Man hat früher seinen Kindern immer zugerufen, wenn sie draußen spielten, es werde jetzt in einer Stunde dunkel, sie sollten langsam reinkommen.

eclipsed: Gebt uns bitte einen Einblick in die Themen und Texte der einzelnen Songs. „Reprogram The Gene“ etwa fragt nach dem Überleben der Menschheit und verknüpft die große ökologische Problematik mit der Pandemie-Situation.

Hogarth: „Reprogram The Gene“ handelte ursprünglich von Egoismus. Ich wollte darüber schreiben, wie es sich anfühlt, unbesiegbar zu sein. Es hieß da auch noch „Invincible“. Doch je mehr ich über diese Eitelkeit nachdachte, umso mehr meldeten sich die drängenden Umweltprobleme. Ich erwähne deshalb Greta Thunberg. Ich liebe ihre naive Sichtweise. Im Gegensatz zu Politikern, die alles schwierig und unlösbar machen, betont sie bei diesen globalen Problemen die Einfachheit und Notwendigkeit, diese Misere lösen zu müssen – und zwar genau jetzt. Man muss hier radikal sein. Vom individuellen Egoismus entwickelte sich der Song also hin zu einem planetaren Bewusstsein: „Lasst uns alle Freunde des Planeten Erde sein!“ Denn wenn wir die Welt um uns weiter töten, werden wir ihr folgen.

Mark Kelly: Ich möchte dabei noch mal daran erinnern, dass wir ja schon vor über 30 Jahren mit „Seasons End“ einen Song über die Klimakatastrophe geschrieben haben, und kaum jemand hat ihn ernst genommen. Und jetzt befinden wir uns in einer absoluten Notsituation, was das Klima betrifft. Man kann bei solchen Themen nicht wegsehen. Bei COVID-19 ist das ja genauso, jeder schaut doch täglich auf die neuen Zahlen, du kannst dem nicht entkommen. Und so drängt sich das dann in die Songs.

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