PETER GABRIEL - Tiefe Verbundenheit

8. Januar 2024

Peter Gabriel

PETER GABRIEL - Tiefe Verbundenheit

Über zwei Jahrzehnte nach seiner Ankündigung erscheint nun endlich „i/o“, das erste Studioalbum von Peter Gabriel mit neuem Songmaterial seit „UP“ von 2002. Nach der Fertigstellung ließ sich der Ex-Genesis-Sänger mit der Veröffentlichung des gesamten Werks noch rund ein weiteres Jahr Zeit, um stattdessen zu jedem Voll- und Neumond via Streaming einen neuen Song in zwei verschiedenen Abmischungen in die Welt zu schicken. Wir tauchen in die lange Vorgeschichte des Albums ein, widmen uns dem dahinterstehenden ganzheitlichen Ansatz, dem facettenreichen Artwork, den inhaltlichen Themen und den einzelnen Songs, wobei der Meister auch selbst zu Wort kommt. Ein Blick auf seine Aktivitäten als Menschenrechtler darf ebenfalls nicht fehlen, um das Mysterium dieses außergewöhnlichen Künstlers und seines enigmatischen Schaffens umfassend zu ergründen. Überdies sind wir gemeinsam mit der Band Voyager IV in die Real World Studios gereist, in denen seit 1989 Gabriels Alben neben denen anderer „Weltmusiker“ entstehen. 

„Ich bin nur ein Teil von allem.“ Diese Zeile aus dem Titelsong „i/o“ drückt die grundlegende Botschaft von Peter Gabriels neuem Album aus. Fans des bekennenden Zauderers dürften die neuen Songs regelrecht inhalieren, so lange hat sie der britische Musiker darauf warten lassen. Nach „UP“ (2002) gab es seitdem bis auf wenige einzelne Songs nur Veröffentlichungen von älterem Material: mal Altbekanntes in neuen orchestralen Arrangements, mal Coverversionen von Songs anderer Künstler oder Zusammenstellungen mit Stücken von B-Seiten und aus Soundtracks. Dabei wollte der Mann, der sich einst hinter einer Fuchsmaske versteckte und seinen Schädel kahl rasierte,  ursprünglich gleich nach „UP“ mit ebenjenem „i/o“ nachlegen. Was ist in all den Jahren passiert? Kann „i/o“ nach der langen Produktionszeit die damit verbundenen Erwartungen erfüllen? Welche Songs veröffentlicht Gabriel aus seinem großen Fundus, welche der Themen, die dem Visionär am Herzen liegen, werden darin behandelt? Und warum bloß zögerte er die eigentliche Albumveröffentlichung noch ein ganzes Jahr hinaus? Fragen über Fragen, die den vielleicht verschlungensten Entwicklungspfad markieren, den ein Musikalbum je hatte.

Die Vorgeschichte: Irrungen und Wirrungen inmitten vieler Tourneen

„Ich bin notorisch langsam“, gesteht Peter Gabriel. Doch was hat den Mann über zwei Jahrzehnte lang davon abgehalten, ein neues Studioalbum zu veröffentlichen? Bereits bei den Presseaktivitäten zum Vorgänger „UP“ sprach er von einem in zwei Jahren folgenden Album namens „i/o“. (Dieser Titel war ursprünglich auch schon für „UP“ vorgesehen gewesen.) Schließlich hatte er in den 90er-Jahren eine Unmenge an Songs geschrieben, die auf ihre Fertigstellung warteten. Doch dieser letzte Schliff kann bei Gabriel bekanntermaßen längere Zeit beanspruchen. So erklärte er im vergangenen Mai im britischen Magazin „Uncut“: „Ich bin ein umständlicher Kerl. Ich will nicht gehetzt werden. Ich mache Dinge dann, wenn ich denke, dass die Zeit dafür reif ist.“ Tatsächlich hat der Musik machende Stoiker sich all die Jahre aber nicht auf die faule Haut gelegt. Viele Projekte und Touren verzögerten die Fertigstellung von „i/o“. Da waren zum einen die langen „Growing Up“-Tourneen und spezielle Events in den 2000er-Jahren. Gleichwohl arbeitete er 2005 mit Tontechniker Richard Chappell und Schlagzeuger Ged Lynch weiter an Songs. Auch ließ Gabriel wiederholt verlauten, einige neue Stücke live erproben zu wollen, was er sowohl auf der „Back To Front Tour“ 2012- 14 als auch der gemeinsam mit Sting unternommenen „Rock Paper Scissors Tour“ 2016 sowie bei einem Konzert in Italien in die Tat umsetzte. Dort kamen die Fans in den Genuss, die neuen Songs „Daddy Long Legs“ (später umbenannt in „Playing For Time“) und „What Lies Ahead“ bzw. „Love Can Heal“ zu hören. („What Lies Ahead“ schaffte es dann allerdings doch nicht auf „i/o“.) Das Werk befand sich also in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess, und das Album, das nun als „i/o“ erscheint, ist längst nicht mehr jenes, das seinerzeit für 2003/04 angekündigt wurde. 2013 äußerte sich Gabriel gegenüber dem „Rolling Stone“ zu diesem Prozess folgendermaßen: „Es hat sich wahrscheinlich nicht annähernd so viel bewegt, wie ich es mir in der Zwischenzeit gewünscht hätte. Die Lieder sind immer noch da, aber einige von ihnen würde ich jetzt neu machen, und es gibt auch einige neue Sachen.“ Dabei haderte er auch durchaus mit sich: „Ich verfalle sehr leicht in Melancholie.“

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