Mitte der 70er-Jahre überschritt die progressive Rockmusik ihren Zenit und begann, sich in übertriebenem Bombast und Selbstgefälligkeit zu verlieren. Der Aufstieg des mainstreamaffineren AOR und die Disco-Welle setzten ihr ebenfalls mächtig zu. Der neue Feuilleton-Liebling des Vereinigten Königreichs, der Punk, der sich auch als Gegenbewegung zum verkünstelten, aufgeblasenen Rock der „langweiligen alten Säcke“ sah, erschien dann wie der Sargnagel des Genres. Anfang der 80er war Prog nicht mehr hip, sondern geradezu ein Schimpfwort. Doch Totgesagte leben länger: Ende 1983 waren Genesis und Yes mit ihren Hits „Mama“ bzw. „Owner Of A Lonely Heart“ wieder in aller Munde. Zugleich wurde das alte Genre von einer jungen Garde von Musikern wiederbelebt, die erste Erfolge feierten, allen voran Marillion. Im Folgenden beleuchten wir, wie es zu diesen Entwicklungen kam und was den speziellen progressiven Sound der 80er-Jahre ausmachte. Außerdem stellen wir die wichtigsten Prog-Alben des Jahres 1983 vor.
Was war da passiert? Plötzlich knallten moderne Sounds von alten Helden aus den Boxen. 22. August: „I can’t see you, Mama“ – unheilvolle Synthieklänge, ein ratternder Linn-Drumcomputer und ein Phil Collins, der sich die Seele aus dem Leib schreit, Töne von sich gibt, die mehr von einem Grunzen als einem Lachen haben. 24. Oktober: heftige Samplingeffekte wie Breakbeats im HipHop, dazu eine sägende Gitarre und ein Jon Anderson, der so locker wie nie zum typischen 80er-Jahre-Rhythmus singt: „Move yourself…“. „Mama“ von Genesis und „Owner Of A Lonely Heart“ von Yes liefen Ende 1983 bei MTV in Dauerschleife. Zwei der größten Bands des Progressive Rock hatten sich dem Zeitgeist entsprechend elektronischer und rhythmischer erfolgreich neu erfunden, fuhren dadurch kommerzielle Erfolge ein, von denen sie in den 70ern nur träumen konnten, und trugen, derart modernisiert, zur Weiterentwicklung des Genres bei. Bereits ein paar Monate davor hatten einige jüngere Musiker, die stark im Geiste des alten Prog operierten, ebenfalls erste Akzente gesetzt: Marillion, eine Band aus Aylesbury, fuhr mit ihrem Debüt „Script For A Jester’s Tear“ mit Charterfolgen vor allem im UK und Deutschland die Ernte der 1981 erfolgten Neurekrutierung des Sängers Fish ein. Musikalisch orientierte sie sich deutlich hörbar an Genesis, allerdings vornehmlich an deren frühen 70er-Jahre-Alben mit Peter Gabriel. Es war nur der erste Leuchtturm am Horizont des aufkommenden Neoprog.
Zeitenwende: Verbindung mit Synthiepop und andere neue Symbiosen
Zu Beginn der 80er waren ELP, Yes, Gentle Giant und viele weitere Vertreter des klassischen Prog erst mal passé. Durch die Integrierung von Elementen des Synthiepop erwies sich das Genre aber durchaus als anschlussfähig an den Zeitgeist. Seit Ende der 70er dominierte die von elektronischen Bands wie Kraftwerk inspirierte New Wave den kommerziell erfolgreichen Musiksektor – besonders im Vereinigten Königreich. Da im Prog neben dem Gitarristen immer auch der Keyboarder eine prominente Rolle gespielt hatte, konnten viele seiner altgedienten Vertreter wie auch die des Neoprog neue synthetische Sounds in ihre Musik integrieren, ohne dass dies als Stilbruch wahrgenommen wurde, und sich dadurch modernisieren (siehe Kasten). Jethro Tull führten dies bereits 1982 auf dem Album „The Broadsword And The Beast“ vor, auf dem sie ihren Folkprog höchst spannend mit modernen Keyboardklängen vermählten. Gute Beispiele dafür boten auch die kanadischen Bands Saga und Rush: Erstere modernisierten mit dem 80er-Jahre-Starproduzenten Rupert Hine bereits 1981 auf „Worlds Apart“ kommerziell erfolgreich ihren Sound mit elektronischen Drums und frühem Sampling. Rush wiederum öffneten sich auf „Signals“ 1982 dem Synthierock. Auch das Alan Parsons Project beschritt ab dem Album „Eye In The Sky“ (1982) zunehmend digital tönende, poppigere Wege. Der durch „Tubular Bells“ (1973) als Longtrack-Wunderkind bekannt gewordene Mike Oldfield verlegte sich ab 1982 immer stärker auf kürzere Popsongs und feierte 1983 mit „Moonlight Shadow“ und „Shadow On The Wall“ Charterfolge. Pink Floyd dagegen, nun praktisch ein Roger-Waters-Soloprojekt, atmeten im selben Jahr auf „The Final Cut“ ohne Rick Wright, dafür mit Orchester letzte Züge im sinfonischen Sound.
Im Übrigen hatte sich in den 80ern passend zur hektischeren Zeit buchstäblich der Rhythmus verändert. Vorreiter der Anpassung waren hier King Crimson, die 1969 das frühe Prog-Blaupausewerk „In The Court Of The Crimson King“ vorgelegt hatten. Mastermind Robert Fripp wollte weg vom alten Sound und hatte die geniale Idee, den damals bei den angesagten Talking Heads aktiven Adrian Belew als zweiten Gitarristen anzuheuern. Dieser sorgte für einen energetischen und deutlich hektischeren Sound, als ihn die Band je zuvor gehabt hatte. Komplettiert wurde das neue Line-up durch Yes-Urgestein Bill Bruford, der ans Schlagzeug zurückkehrte, und Tony Levin, der sonst bei Peter Gabriel Bass spielte. Zunächst unter dem Namen Discipline, dann aus Marketinggründen erstmals seit sieben Jahren wieder als King Crimson fanden Fripp und seine Truppe auf „Discipline“ (1981) und „Beat“ (1982) die Formel für einen Post-Prog, der sowohl tanzbar als auch verfrickelt genug war, um neben den Beinen auch das Hirn anzusprechen. So waren King Crimson, auch wenn sie 1983 kein Album am Start hatten („Three Of A Perfect Pair“, der letzte Teil der Albumtrilogie, erschien erst 1984), maßgeblich an der Neuerfindung des Prog beteiligt.
Zu den ersten der alten Helden, die ihren Sound und Stil gänzlich umgestalteten, gehörte auch Manfred Mann. Hatte seine Earth Band schon auf den vorherigen Alben mit dem Pop geflirtet, erfand sie sich auf „Somewhere In Afrika“, das in Deutschland bereits im Oktober 1982 (im UK im Februar 1983) auf den Markt kam, völlig neu: Heftiger, harter Rock, peitschende Drum- und flirrende Synthiesounds gingen eine Symbiose mit afrikanischen Rhythmen und Stammesgesängen ein. Nur Manns Moog-Soli und Chris Thompsons Gesang waren übriggeblieben. Die Earth Band war damit auf Augenhöhe mit Peter Gabriel, der seit Anfang der 80er so innovativ wie nie zuvor eine post-punkige Fusion von Prog und Weltmusik betrieb (zuletzt auf „4“, 1982), sowie mit den Avantgardisten Brian Eno und David Byrne („My Life In The Bush Of Ghosts“, 1981). Yes-Innovator Trevor Rabin dazu: „Ich war und bin mit meinem südafrikanischen Landsmann Manfred Mann befreundet und habe auf dem fantastischen ‚Somewhere In Afrika‘ am ‚Redemption Song‘ mitgewirkt. Ich liebe dieses mutige Album bis heute.“