In der klassischen Krautrockära der 70er-Jahre, als ohne Rücksicht auf Genre- und andere Grenzen lebenslustig experimentiert wurde, gab es einiges Spezielles und Kurioses. Als Geheimtipp gilt bis heute das einzige Album des schweizerisch-jenischen Künstlers Walter Wegmüller, auf dem die Wahrsagekarten des gerade damals sehr populären Tarots in Musik umgesetzt wurden. Die abgespacten Jams einer illustren Runde von Krautrockmusikern, 1973 auf Doppel-LP gebannt, haben je nach Geschmack Kult- oder zumindest Exotenstatus. Fünfzig Jahre später erscheint das Werk frisch remastert in verschiedenen Editionen. Anlass genug, der Geschichte von „Tarot“ nachzuspüren, wofür wir exklusiv Toningenieur Dieter Dierks befragt haben.
Das Tarot hat in seiner jahrhundertlangen Geschichte viele Inkarnationen erlebt. Große Bekanntheit erlangte etwa jene des Okkultisten Aleister Crowley in den 1940er-Jahren. Die künstlerische Grundlage für das gleichnamige Album von 1973 legte jedoch Walter Wegmüller mit seiner ganz eigenen Vision der Tarotkarten, dem sogenannten „Zigeuner-Tarot“, basierend auf der Kultur der oft verfolgten und ausgegrenzten „fahrenden Völker“ Sinti, Roma und Jenische (die damals noch offiziell unter dem heute als diskriminierend erachteten Begriff „Zigeuner“ zusammengefasst wurden). Darüberhinaus stammen von ihm auch fast alle Texte, während zum Konzept des Albums laut Dieter Dierks auch Rolf-Ulrich Kaiser, der Mitgründer und Manager des Labels Ohr, einen Beitrag leistete. Dieser rief 1973 das Sublabel Kosmische Kuriere ins Leben, das später in Kosmische Musik umbenannt wurde.
Die Wurzeln des Albums lagen in den Aufnahmen der drogengeschwängerten Ash-Ra-Tempel-Scheibe „Seven Up“, die gemeinsam mit dem US-Psychologen, LSD-Befürworter und Guru der Hippiebewegung Timothy Leary in Bern aufgenommen worden war, wo dieser lebte, nachdem er sich einer Gefängnisstrafe in den USA wegen Drogenbesitzes durch Flucht entzogen hatte. Das Cover dazu hatte der ebenfalls in Bern lebende Walter Wegmüller geschaffen, der sich dort mit dem Publizisten Sergius Golowin (der seinerseits 1973 das Album „Lord Krishna von Goloka“ bei Kosmische Kuriere herausbrachte) für die Jugendkultur engagierte. Wegmüllers großes Projekt, das „Zigeuner-Tarot“, sollte nach der Veröffentlichung seines Albums auch breite internationale Beachtung finden.
Entstehung von „Tarot“: Die Aufnahmesessions
Zwischen den Aufnahmen für „Seven Up“ im August 1972 und jenen für Wegmüllers Album „Tarot“ im Dezember in Dieter Dierks’ Tonstudio in Stommeln bei Pulheim (später dort eingemeindet) nahe Köln vergingen nur wenige Monate. Dierks’ Studio 1 hatte sich damals neben dem von Conny Plank in Wolperath als Soundschmiede und Mekka für viele der wichtigsten Krautrockprotagonisten etabliert. So kamen hier Musiker gleich dreier bedeutender Bands zusammen: Da waren zum einen Manuel Göttsching, Hartmut Enke und Klaus Schulze von Ash Ra Tempel. (Letzterer trat der Gruppe allerdings erst wieder während ebendieser Sessions bei.) Dazu kamen Jürgen Dollase, Jerry Berkers und Harald Grosskopf von Wallenstein, das Songschreiberduo Witthüser & Westrupp und natürlich Wegmüller sowie Dierks. Als Produzent fungierte Rolf-Ulrich Kaiser. „Tarot“ war im Frühjahr 73 das dritte Album, das auf dem neuen Sublabel Kosmische Kuriere erschien. Wessen Idee war es überhaupt, Wegmüllers Tarotkarten auf diese Weise musikalisch umzusetzen? Dierks erinnert sich: „Die Ursprungsidee kam von RUK [Rolf-Ulrich Kaiser] und dessen Lebensgefährtin Gille [Lettmann, Anm.]. Die beiden hatten sich intensiv mit Tarot beschäftigt. RUK ist dann auf Walter Wegmüller gestoßen, und beide haben das Projekt so verabschiedet.“