Man schreibt den 3. Februar 1972, und die wenigsten Besucher des Lanchester Arts Festival im Locarno Ballroom, Coventry, England, wissen, dass der Typ da vorne auf der Bühne in seiner Jugend einmal mit dem Gedanken gespielt hat, Comedian zu werden. Und wüssten sie’s, sie würden erst recht jubeln, nach jeder einzelnen Songzeile. Der Mann am Mikrophon rollt mit den Augen, grinst und tut dabei, als könne er kein Wässerchen trüben: „This here song it ain’t so sad, the cutest little song you ever had.“ Indeed, Sir, das Ganze klingt eher nach Schüttelreim und Kinderlied als nach anspruchsvoller Rockkunst. Aber war Rock’n’Roll nicht immer schon Kinderlied und Schüttelreim? Und gehörten nicht auch versaute Anspielungen von Anfang an, ach was, schon lange vor dem Rock’n’Roll, zum Geschäftsmodell des musikalischen Spontan-Entertainments? Der Sänger weiß das: „Those of you who will not sing, you must be playin’ with your own ding-a-ling!“
Klar, der das singt, heißt Chuck Berry, und sein Lied „My Ding-a-Ling“. Ein Noveltysong aus der Feder von Dave Bartholomew, 20 Jahre vorher geschrieben, als der Komponist noch Produzent, Mentor und Partner-in-crime von Rhythm’n’Blues-Legende Fats Domino war. Schwarzer Musikadel also. Und nichts anderes ist Chuck Berry. Allerdings nicht wie einst Bartholomew und Domino in New Orleans, sondern ein gefühltes Popjahrhundert später in einer nordenglischen Universitätsstadt und für ein fast ausschließlich weißes Publikum. Dem ist Berry verehrter Gottvater des Rock’n‘Roll, etwas wunderlicher Onkel der Generation Woodstock und beinahe vergessenes Relikt aus Prä-Beatles-Zeiten. Was also hat er im Locarno Ballroom verloren? Er tourt, denn er muss Geld verdienen. Und die weißen Kids haben genug davon.
Mit seiner schlüpfrigen und nicht ganz ernst gemeinten Performance von „My Ding-A-Ling“, die in Coventry für sein Album „The London Sessions“ aufgezeichnet wird, landet Chuck Berry wenig später einen Nummer-1-Hit in den USA. Den ersten in seiner Karriere. Und einen, der den hier versammelten, mit den irrsten Spielarten des Rock vertrauten Fans deutlich macht, wie all das mal angefangen hat: mit drei Akkorden, einem unwiderstehlichen Beat (den Berry allein mit seiner Gitarre fabriziert, einen Drummer braucht er dazu nicht) und einem simplen, gerne auch zweideutigen Text. „My Ding-A-Ling“ ist so etwas wie die Antithese zu diesem Jahr, in dem sich Rock weitestmöglich von seinen Gassenhauer-Qualitäten entfernt hat, gleichzeitig just darauf besinnt und den politischen Ballast der Gegenkultur über Bord wirft.
Prog rules!
In der Woche von Chuck Berrys Gastspiel bietet die Top 20 der englischen Album-Charts ein interessantes Bild: Da thront an der Spitze „Electric Warrior“ von T. Rex, ein erstes Highlight des Glamrock, der sich bewusst vom „Größer, höher, weiter!“-Prinzip der Post-Beatles-Ära entfernt, wieder auf Spaß und griffigen Rock’n’Roll setzt („Jeepster“, „Get It On“) und sich mit der guten alten Single an die klassische Popklientel der Teenager richtet. Gleichzeitig finden sich in der Bestsellerliste Led Zeppelin mit dem XXL-Rock ihres vierten Albums, dazu so verschiedene Bands wie Faces, Deep Purple, Pink Floyd und die Folkrocker Lindisfarne. Ihre Platten zeigen: Der Mainstreammarkt ist offen für alle Spielarten der Rockmusik, für simple Drei-Akkord-Kracher, introvertierte Singer-Songwriter-Poesie und romantischen Folkrock ebenso wie für komplexen Progressive Rock. Letzterer wird in diesem Jahr seinen kommerziellen Peak erleben.
Als Chuck Berry auf der Bühne in Coventry steht, sind etwa Yes zwar noch auf ihrer „Fragile“-Tournee durch England, der ersten mit ihrem neuen Keyboarder Rick Wakeman, gleichzeitig aber beginnen sie im Februar bereits mit den Aufnahmen für ihr nächstes Album. „Close To The Edge“ wird im September ’72 veröffentlicht und zum Opus Magnum von Yes werden. Nie davor und nie danach gelang der Band um Sänger Jon Anderson eine schlüssigere Synthese aus verstiegenen musikalischen Luftschlössern, atemberaubenden Klangwelten und epischen Popmelodien. Die Platte verkauft sich wie geschnitten Brot und schafft es auf beiden Seiten des Atlantiks, in den USA und im Vereinigten Königreich, in die Top Five.