1973 - Progressive Rockmusik hat sämtliche Grenzen gesprengt, und die eigenen erreicht

1973 - Progressive Rockmusik hat sämtliche Grenzen gesprengt, und die eigenen erreicht

Noch einmal fährt die Rockmusik der Post-Pepper-Ära ihre üppige Ernte ein: 1973 veröffentlichen die Flaggschiffe des Genres mit ihren jeweils neuen Alben wahre Meisterwerke. Einige der großen Würfe des Jahres aber - etwa die von Genesis, Yes oder ELP - tragen den Keim des Niedergangs bereits in sich. Einmal mehr beginnt sich die Rockmusik zu häuten. Das verschwenderische  Feuerwerk des Prog wird bald verglühen und die Pop-Karawane zum neuerlichen Aufbruch blasen. 
Frische Impulse gibt es genug. 

Shipton liegt wenige Meilen nördlich von Oxford, gute zwei Autostunden entfernt von London. Erstmals erwähnt wurde das Dorf im elften Jahrhundert, als sich Benediktinermönche an der Biegung des Flusses Cherwell niederließen. Um 1660 erbaute dann ein Adliger dort ein großzügiges Landhaus, in dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts Englands wohl bedeutendster Maler William Turner residierte. Im März 1971 wechselte das ehrwürdige Gemäuer einmal mehr den Besitzer: Für 30.000 Pfund erging der Zuschlag an einen hoffnungslos verschuldeten Londoner Jungunternehmer, der dennoch und trotz seiner gerade erst zwanzig Jahre schon über vierzig Angestellte verfügte. Das Geld für das noble Anwesen musste er sich von seiner Tante borgen, und ob er den Umstand, dass sein neuer Besitz nur wenige Meilen entfernt von einem weiteren Dorf mit dem beziehungsreichen Namen Woodstock lag, als gutes Omen für seine popmusikalischen Aktivitäten betrachtete, ist nicht überliefert.
Fakt aber ist: Zwei Jahre später hat der junge Mann in Manor House ein State-of-the-Art-Tonstudio bauen lassen, womit das Anwesen zu einer der spannendsten Adressen der englischen Musikszene wird. Es ist ein Tag im Frühling, der 25. Mai 1973, der das Leben des jungen Hausherrn Richard Branson, seines Zeichens Inhaber eines Plattenversandhandels, mehrerer Record Shops und der noch jungfräulichen Firma Virgin Records, und das eines weiteren jungen Mannes, des hochbegabten und überaus schüchternen Michael Gordon Oldfield, verändern wird. Letzterer hat keine zwei Wochen zuvor seinen zwanzigsten Geburtstag gefeiert. An diesem Freitag nun tritt er erstmals als Schallplattenkünstler auf. Das Virgin-Label veröffentlicht mit „Tubular Bells“ Mike Oldfields Debüt – ein bemerkenswerter Startschuss: Bald zählen der junge Musiker und sein Labelchef zu den Big Playern, die Platte mausert sich nach einer gewissen Anlaufzeit und dank der Verwendung ihrer Anfangssequenz im Kinohit „Der Exorzist“ zum Millionenseller; Oldfield, eben noch ein sandalentragender Dutzendhippie, wird zum gefeierten Star und Virgin bis auf weiteres zu einer der hipsten Firmen der Popszene. 

Showbiz, baby!

Es ist die Zeit, als Rock in all seinen Schattierungen den Pop-Mainstream erobert hat. Ein Blick in die Charts jenes Frühlings genügt, dort tauchen Namen auf wie Pink Floyd, Yes, Status Quo, T.Rex, Led Zeppelin und Alice Cooper. 
Aber: Es gibt auch anderes, vor allem das vielfältige Erbe des Sixties-Pop. Zu diesem gehören neben „Sgt. Pepper“ auch Motown, der kalifornische Folkrock, das florierende Singer-Songwriter-Genre und das Vermächtnis des legendären Brill Building in Gestalt von Carole King, Neil Diamond und Burt Bacharach. Nicht nur in den Charts schlägt sich das nieder, zu sehen ist es auch an der Liste der diesjährigen Grammy-Preisträger. Da tummeln sich Größen wie Roberta Flack, Aretha Franklin, Harry Nilsson, Helen Reddy und die guten alten Temptations. Als beste neue Gruppe werden nicht etwa T.Rex, Genesis oder die Spiders from Mars ausgezeichnet, sondern die biederen Folkpopper von America. Und zum Album des Jahres wird der Live-Mitschnitt des „Concert For Bangladesh“, veranstaltet von George Harrison und Ravi Shankar. Auch Bob Dylan, Eric Clapton und Ringo Starr waren dabei – eine Veteranen-Elite des Rock, die vor allem von den weltweit besungenen Heldentaten früherer Jahre zehrt. Nichts Neues also beim großen Pop-Preisschießen, stattdessen ein Stelldichein der Business-Elite. Kein Wunder, die Branchenlosung lautet schließlich wie eh und je: „It’s showbiz, baby!“ Wer bei der Grammy-Sause auf der Bühne steht oder an einem der begehrten Tische davor Platz nimmt, hat das verinnerlicht.

Und doch ist 1973 ein Jahr, in dem die Rockmusik unentwegt zu neuen Ufern strebt. In die Karten spielt den experimentierfreudigen Musikern dabei der Umstand, dass die Industrie noch immer nicht recht weiß, wie dieser stetig wachsende Rockmarkt funktioniert. Warum verkauft eine schrullige Kapelle wie Jethro Tull Millionen von Alben, während die mit allen Marketingtricks gepushten Brinsley Schwarz grandios floppen? Warum findet ein pummeliger Brillenträger wie Elton John ein Millionenpublikum, während der mindestens gleichermaßen begabte Nick Drake praktisch ungehört verhallt? Und was machen Pink Floyd so anders als die genialischen Gentle Giant, die über den Status eines Geheimtipps nicht hinauskommen? Die Branchen-Granden zucken mit den Schultern, sie können es nur immer wieder neu versuchen. Zum Beispiel mit dem Londoner Quartett, das sich selbstbewusst Queen nennt und dessen aus Sansibar stammender Sänger einen gewaltigen Überbiss hat. Oder mit der eigensinnigen Betty Davis und ihrem überspannten Funk, Rock, Soul oder was immer das sein soll. Oder mit den vier durchgeknallten New Yorkern, die in Frauenkleidern rumlaufen, sich die Haare hochtoupieren und fetter geschminkt sind als die Nutten am Times Square – New York Dolls fürwahr. Langhaarige mit Gitarren gibt es jedenfalls wie Sand am Meer. In einem jeden von ihnen könnte der Superstar von morgen stecken.

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