THE BEATLES - Der neue Blick auf „Let It Be“

2. Januar 2022

The Beatles Giles Martin

THE BEATLES - Der neue Blick auf „Let It Be“

Das Abschiedsalbum der Beatles „Let It Be“ steht für den Versuch, etwas zu kitten, das sich nicht mehr reparieren ließ: vier müde Musikpioniere, die nicht mehr in einem gruppendynamischen Verbund arbeiten konnten, geschweige denn wollten und die sich trotzdem auf ein ebenso kostspieliges wie nervenaufreibendes Experiment einließen, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Giles Martin berichtet im Gespräch mit eclipsed nicht nur über seine Neuabmischung des Albums und die Zusammenstellung nie zuvor veröffentlichter Studioaufnahmen, sondern wirft auch einen persönlichen Blick – und zugleich den seines verstorbenen Vaters – auf ein Werk, das es neu zu bewerten gilt.

Eigentlich sollte es das Album werden, das die Beatles retten würde – stattdessen zeigte „Let It Be“ den Fab Four die eigenen Grenzen auf: Geplant als multime-diales „Zurück-zu-den-Wurzeln-Projekt“, wurde es für die Superstars der 60er zum echten Albtraum. Jetzt, 51 Jahre später, erlebt es eine späte neue Würdigung – mit aufwendigen Remixen von Giles Martin, dem Sohn des 2016 verstorbenen Beatles-Produzenten Sir George Martin, die dem als letztes veröffentlichten Werk von John, Paul, George und Ringo tatsächlich neuen Glanz verleihen. eclipsed hat Martin junior in den Abbey Road Studios besucht. 

eclipsed: Giles, „Let It Be“ wurde vor „Abbey Road“ aufgenommen, aber erst danach vollendet. Es sollte ein „Back-to-the-Roots-Projekt“ sein, aber auch ein Multimediaspektakel aus Film, Konzert und Album. War das schlichtweg überambitioniert?

Giles Martin: Es war extrem ehrgeizig, aber nicht sonderlich durchdacht. Oder anders formuliert: Es war ziemlich realitätsfremd, wenn nicht größenwahnsinnig, als Band ernsthaft zu sagen: „Wir machen eine Liveshow, die wir auch aufnehmen, und bei der Gelegenheit spielen wir ausschließlich neue Stücke, die wir aber noch nicht geschrieben haben. Und keine Ahnung, wo wir das Ganze aufführen, aber in zweieinhalb Wochen muss alles stehen.“ Sprich: Es war verrückt, der pure Größenwahn. Hätten die Beatles einfach ihre Hits gespielt, hätte es vielleicht funktioniert, aber das war ihnen zu wenig. Dabei hatten sie zu dem Zeitpunkt gar keine Ideen für neue Songs, und die Kompositionen von George waren ihnen zu komplex, während Paul eine Menge Balladen schrieb, die sich ebenfalls nicht für ein Rockkonzert oder ein Rockalbum eigneten. „Let It Be“ oder „The Long And Winding Road“ waren zu ruhig. Doch das erklärte Ziel von John und Paul war, zu ihren Wurzeln zurückzukehren – zu dem Rocksound, für den sie in ihren Hamburger Tagen und ihrer Zeit im Cavern Club standen. Eben um zu sehen, wo ihre alte Magie geblieben war und ob sie sich wieder herstellen ließ.

eclipsed: Die „Let It Be“-Sessions gelten als eine Phase heftiger interner Spannungen. Gemessen an dem, was du bearbeitet hast: Wie hat sich das geäußert? Wie vergiftet war die Stimmung?

Martin: Eigentlich ist davon nicht viel zu merken. Ich meine, abgesehen von dem Konflikt mit George war es in den Twickenham Studios zwar kalt und langweilig, ansonsten aber ganz OK. Die Sessions zeigen, wie effektiv ihre Arbeitsweise immer noch war. Von einem Zusammenbruch ist da nichts zu spüren. Deswegen ist es auch seltsam, dass der Film „Let It Be“ als Dokument des gruppendynamischen Zusammenbruchs galt. Dabei war er das gar nicht: Nach dem Ende der Sessions sind sie ja noch mit meinem Vater ins Studio gegangen, um „Abbey Road“ aufzunehmen. Zudem kann man ihnen anmerken, wie glücklich sie beim sogenannten Rooftop-Konzert waren. Insofern ergeben all die wilden Theorien über den inneren Zusammenbruch keinen Sinn. Ich meine, sie wussten, dass sie in unterschiedliche Richtungen strebten, und sie haben offen über eine mögliche Trennung gesprochen, weil sie unabwendbar erschien. Doch sie haben das auf sehr humorvolle Art und Weise getan. Es ist immer wieder interessant, dass die Leute bei den Beatles nach dieser verheerenden Explosion suchen, die die Band regelrecht ausgelöscht hat – einfach, weil ihre Trennung einen seismischen Nachhall in der Popwelt hatte. Dabei war es schlichtweg so, dass sie sich zusehends langweilten und etwas anderes tun wollten.

eclipsed: Was ist mit den hitzigen Streitgesprächen, den fliegenden Fäusten und McCartneys dominantem Auftreten im Studio, das angeblich alle genervt hat? 

Martin: McCartney war definitiv sehr „bossy“. Er hat sich da schon als Anführer aufgespielt und den Rest der Band allein dadurch genervt. Aber was in diesem Zusammenhang lustig ist: Als ich vor Jahren mit meinem Vater an dem „Love“-Projekt [Beatles-Compilation von 2006, Anm.] gearbeitet habe, meinte ich zu ihm: „Sag mal, McCartney ist ja wahnsinnig präsent – hatte er die Führungsrolle in der Band?“ Und mein Vater hat nur gelacht. Er sagte: „Erinnerst du dich noch an Mrs. Homisham aus unserem Dorf? Diese Frau, die sich immer um alles gekümmert hat, die in der Kirche, der Gemeinde, im Stadtrat und überall vertreten war und eine wichtige Rolle spielte? Paul McCartney war die Mrs. Homisham der Beatles.“ Was einfach daran lag, dass er so engagiert und leidenschaftlich war. Ich habe selbst mit ihm im Studio gearbeitet und kenne niemanden, der so bei der Sache ist – und das meine ich keineswegs negativ. Er will einfach alles zu Ende bringen. 

eclipsed: „Let It Be“ wurde nur einmal live aufgeführt – auf dem Dach des Apple-Gebäudes in London, wo der Gig wegen Anwohnerbeschwerden nach 42 Minuten abgebrochen wurde. Wieso sind die Beatles nicht wie ursprünglich geplant an einen alternativen Ort wie die tunesische Wüste oder einen Ozeandampfer auf hoher See ausgewichen? Was sprach dagegen?

Martin: Ganz einfach: Ringo konnte das Land nicht verlassen, weil er gleichzeitig in ein Filmprojekt involviert war. Und dann hatten sie ewige Diskussionen darüber, wie wichtig ihnen der Liveaspekt überhaupt noch war – sie hatten da sehr unterschiedliche Ansichten. Noch am Tag vor dem Gig meinte George: „Ich will nicht auf dem blöden Dach spielen.“ Umso überraschender war, dass sie das letztlich doch getan haben. Und es ist verblüffend, wie gut dieses Konzert am Ende war. Denn die Tracks, die für das Album verwendet wurden, „Dig A Pony“ und „I’ve Got A Feeling“, klingen toll. Was auch ein Verdienst von Glyn Johns war: Seine Liveaufnahmen sind wirklich klasse.

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