Morgens 10 Uhr in England. Wir treffen Jem Godfrey – seines Zeichens Sänger, Keyboarder und Haupt-Songwriter von Frost* – in seinem sonnendurchfluteten Heimstudio an. Dort ist der 53-Jährige umgeben von einer Vielzahl von Instrumenten, u.a. einem Railboard (vergleichbar mit einem Chapman Stick), mehreren E-Gitarren und einem alten Yamaha-CP-70-E-Piano, das auf dem neuen Konzeptwerk „Life In The Wires“ häufiger zum Einsatz kam. Während des Gesprächs äußert sich der ehemalige Tour-Keyboarder von Joe Satriani ausführlich über die spannende Story des Albums, das vom frustrierten Teenager Naio handelt, der sich in einer KI-gesteuerten Welt auf die Suche nach einem Radiomoderator macht, welcher noch Musik spielt, die davon nicht beeinflusste wurde – was wiederum eine KI namens The All Seeing Eye auf den Plan ruft, die alles tut, um Naios Pläne zu durchkreuzen.
eclipsed: Jem, „Life In The Wires“ ist das erste Konzeptalbum in der 20-jährigen Karriere von Frost*. Kannst du kurz den Entstehungsprozess umreißen? Was waren dabei die größten Herausforderungen für dich?
Jem Godfrey: Der Entstehungsprozess war eigentlich wie bei allen unseren Alben: Zunächst spiele ich über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren kleine Ideen auf dem Klavier ein, die ich mit dem Handy aufnehme. Sobald ich das Bedürfnis verspüre, ein neues Frost*-Album aufzunehmen, gehe ich diese Ideen durch und arbeite sie aus. Dieses Mal kam alles zusammen, sobald ich den Titel „Life In The Wires“ hatte, den ich interessant fand und von dem ich dachte, dass daraus ein Konzeptalbum werden könnte. Anfangs wusste ich allerdings noch nicht, ob sich der Titel auf einen Trapezkünstler, einen Telefontechniker oder aufs Radio beziehen würde. Ich wollte mit Frost* auch immer ein Doppelalbum aufnehmen, wobei ich aber nicht an zwei CDs, sondern an vier Vinyl-Seiten dachte, so wie bei „Out Of The Blue“ von ELO. Die große Herausforderung bestand darin, so viel Material zu schreiben, und dabei erwies sich die Vinyl-Idee als hilfreich, denn ich dachte: Wenn ich das Album als vier separate Teile betrachte, ist das Ganze viel weniger beängstigend … Und tatsächlich machte mir die Arbeit sehr viel Spaß. Die CD-, LP- und Streaming-Version unterscheiden sich übrigens in kleinen Details, wobei ich mit den Möglichkeiten der jeweiligen Formate spielte.
eclipsed: Als du für das erste Frost*-Album das 26-Minuten-Epos „Milliontown“ geschrieben hast, wolltest du den IQ-Longtrack „Harvest Of Souls“ toppen, zumindest zeitmäßig. Welche Konzeptalben möchtest du mit „Life In The Wires“ toppen?
Godfrey: Am ehesten „The Lamb Lies Down On Broadway“, denn Genesis haben nur ein Doppelalbum aufgenommen [„We Can’t Dance“ (1991) erschien ebenfalls als Doppel-LP; Anm.]. Sie haben auch die Song-Abfolge gut hinbekommen, auch wenn ich ab Seite 3 immer etwas abschweife (schmunzelt). „The Wall“ von Pink Floyd ist ebenfalls brillant, aber ich finde es sehr deprimierend.
eclipsed: Apropos „The Lamb Lies Down On Broadway“: Die Hauptfigur von „Life In The Wires“ ist ebenfalls ein desillusionierter Teenager namens Naio – ein ähnlich neutraler Name wie der von Genesis’ Rael.
Godfrey: Ja, das stimmt. Einige Leute haben mich auch gefragt, ob Naio eine Anspielung auf Neo aus dem Film „Matrix“ ist, aber das ist er nicht. Allerdings ist er ein Anagramm von Aion, dem griechischen Gott der Ewigkeit bzw. der Zeitschleife.
eclipsed: Wenn man das Booklet aufmerksam liest, wird der Name Naio in den Songtexten nie erwähnt …
Godfrey: Nein, denn er ist ganz allein. Und keiner von uns würde von sich in der dritten Person sprechen (lacht).
eclipsed: Ein altes Mittelwellenradio ist der Auslöser dafür, dass sich Naio auf die Reise macht, um einen Radiomoderator zu finden, der in der Sendung „Livewire“ noch Musik spielt, die nicht von Künstlicher Intelligenz erzeugt oder beeinflusst wurde. Haben Radiosendungen wie „Livewire“ auch für deine eigene musikalische Sozialisation eine wichtige Rolle gespielt?
Godfrey: Definitiv! Ich bin ja in den 80er Jahren aufgewachsen und habe abends immer am Radio meiner Eltern rumgedreht. Manchmal bin ich auf einen kleinen Musikschnipsel aus einem fremden Land gestoßen, aber ich wusste nicht, von wem diese Musik war. Manchmal fand ich das erst 20 Jahre später heraus! Das Schöne am alten Radio war, dass es total „unkontrolliert“ war. Wenn man dagegen heute Musik auf Spotify oder im Internet hört, ist alles vorgeschrieben und gelabelt, und es wird genau aufgezeichnet, wie viele Menschen zuhören.