Das südfranzösische Quintett LAZULI ist ein Garant für emotionale Musik, die auf dem Progressive Rock und Artrock der 1970er-Jahre basiert und dennoch völlig eigenständig klingt – so auch auf „Le Fantastique Envol de Dieter Böhm“ (dt.: Der fantastische Flug des Dieter Böhm), ihrem ersten Konzeptwerk. Dieses ist als Verneigung vor den treuen Fans gedacht und rückt die spezielle Wechselwirkung zwischen der Band und ihren Hörern in den Fokus.
„Du hast aber viel Arbeit mit Lazuli“, lacht Sänger/Gitarrist/Hauptkomponist Dominique Leonetti bei der Vereinbarung des Interviewtermins. Macht nichts – denn im Falle des aktuellen Albums lohnt wieder einmal die intensive Beschäftigung mit den Texten, obwohl man als Nicht-Muttersprachler des Öfteren zum Wörterbuch greifen muss. Leonetti freut sich wiederum über diesen zusätzlichen Einsatz und plaudert dementsprechend entspannt über die Banddynamik, die deutschen Fans und darüber, dass Lazuli-Texte mittlerweile sogar im Französischunterricht Einzug gefunden haben.
eclipsed: „Le Fantastique Envol de Dieter Böhm“ ist Lazulis erstes Konzeptalbum. War dir und deinen Kollegen von Anfang klar, dass es darauf hinauslaufen würde oder entstand das Konzept erst während der Arbeit an den Stücken?
Dominique Leonetti: Nun, ich hatte auf der Rückfahrt aus Deutschland einen Text geschrieben, der von einem unserer Fans und von all den Gesichtern inspiriert war, die wir bei unseren Konzerten gesehen hatten. Der Text trug bereits den Namen des Albums, und als Ged [Gédéric Byar; Gitarrist] ihn im Van las, meinte er: „Daraus könnte eine Geschichte werden.“ Ich habe dann einige Monate lang weitergeschrieben, ohne mir wirklich sicher zu sein, dass das Ganze mal fertig würde. Keiner von uns hat daran geglaubt, bis es zu einer Obsession wurde, die es umzusetzen galt.
eclipsed: Welche großen Konzeptalben dienten bei „Le Fantastique Envol…“ als Vorbild? Und gab es bei Lazuli auch so etwas wie Dream Theaters „Inspirationsecke“, in der Poster von berühmten Konzeptalben hingen?
Leonetti: Wir haben ganz intuitiv gearbeitet, ohne konkrete Ideen und ohne Bezugspunkte. Die Idee einer „Inspirationsecke“ lag uns fern, aber unterbewusst waren wir wohl von „Sergeant Pepper“, „The Wall“ oder „Tommy“ beeinflusst.
eclipsed: Ich persönlich glaube, dass das Album von der heilenden und selbst-heilerischen Wirkung der Musik handelt: Der Musiker verarbeitet seine eigenen Sorgen zu Songs, und diese haben wiederum eine ermutigende Wirkung auf die Hörer. Eine schöne Idee!
Leonetti: Vielen Dank! Ich habe deiner Analyse nichts hinzuzufügen. (lächelt) Aber manche Franzosen interpretieren das nicht so, wie ich es selbst empfinde – weil es eine gewisse künstlerische Unschärfe gibt, die ich auf dieser Platte lassen wollte. Das heißt, man kann auch viele andere Dinge reininterpretieren, je nachdem, was man selbst empfindet. Ich sehe das Ganze allerdings ganz ähnlich wie du. Es geht um die Idee des Balsams, der beruhigt und der pflegt. Den Song „Baume“ (dt.: Balsam) habe ich übrigens ganz zuletzt geschrieben, womit die ganze Geschichte besiegelt war.
eclipsed: Meine Interpretation lautet, dass Dieter (bzw. der Lazuli-Hörer) sich nach dem Balsam bzw. der tröstenden Wirkung von Lazulis Musik sehnt und dass er „ein kleines bisschen stirbt, wenn die Musik aufhört“, wie es in „Dieter Böhm“ heißt. Hast du wirklich schon Fans getroffen, für die Lazulis Musik eine Art Lebenselixier ist?
Leonetti: Ja, das ist tatsächlich der Fall, und ich bin total überrascht, dass unsere Musik eine solche Wirkung haben kann. Wir kriegen oft Nachrichten von Leuten, die sagen, dass unsere Musik in ihrem Leben eine sehr wichtige Rolle spielt. Das ist für uns total unerwartet und aufwühlend! Und genau das ist das Thema dieses Albums. Ich war so bewegt von den Worten und den Gesichtern unseres Publikums, dass sich das in den Songs niedergeschlagen hat, ohne dass ich richtig darüber reflektiert habe. Dieter Böhm gibt es übrigens wirklich, und wir haben von ihm ausgehend eine imaginäre Person entworfen, die unser Publikum symbolisiert. In der Geschichte heißt es zwar, dass Dieter ein kleines bisschen stirbt, wenn die Musik aufhört, aber ich muss auch sagen: Lazuli leben, wenn Dieter unsere Musik hört!
eclipsed: Du warst auch dieses Mal für das tolle Artwork zuständig. Darf ich fragen, ob du hauptberuflich als Grafikdesigner arbeitest?
Leonetti: Oh, vielen Dank! Es stimmt, dass ich gerne im visuellen Bereich arbeite, aber ich war nie Grafikdesigner. Ich fühle mich weder als Illustrator noch als Sänger noch als Gitarrist, vielleicht weil ich dies alles nicht voneinander trennen kann. Mir scheint, dass es eine Logik gibt, etwas zu verfolgen, das jenseits der Musik und der Texte liegt. Wenn ich schreibe, gehen mir Bilder durch den Kopf. Die Covers und die Booklets sind eine Möglichkeit, um mich noch weiter auszudrücken, das heißt: Ich profitiere selbst davon! (lacht) Ich verbringe meine Tage und Nächte mit Arbeit. Ich weiß einfach, dass mir all das Freude macht, auch wenn es sich schädlich auf meine geistige und körperliche Gesundheit auswirkt. (lacht)
eclipsed: Unsere Leser würde es sicherlich interessieren, wie du mit Lazuli an den Songs gearbeitet hast….
Leonetti: Zunächst fange ich mit den Texten an. Der Endpunkt ist dann erreicht, wenn die Worte auf natürliche Weise fließen. Die Texte müssen einen echten Sinn haben, aber sie müssen auch Musikalität besitzen. Wenn die Texte passen, ergeben sich die Melodien und die Musik praktisch wie von selbst. Eine Gitarre und ein bisschen Ruhe reichen schon, damit der Song Form annimmt. Manchmal muss man aber erst mehrere Monate mit ihm leben, bis er ausgereift ist.
eclipsed: Du hast auf „Le Fantastique Envol…“ alle Songs selbst komponiert, aber für die Arrangements zeichnet die ganze Band verantwortlich. Hat das manchmal zu Konflikten geführt, etwa wenn deine Kollegen mehr kreativen Input gefordert haben?
Leonetti: In den letzten zwölf Jahren hat es bei uns noch nie Konflikte gegeben – ganz im Gegensatz zu unserer alten Besetzung! Die Arrangierarbeit ist zwar am schwierigsten, weil man an den Punkt kommen muss, wo fünf Gehirne mit einer einzigen Stimme sprechen, aber trotzdem gibt es keine Egoprobleme. Ich habe aber auch Glück, dass ich von intelligenten und verständnisvollen Menschen umgeben bin. Ich bin beim kreativen Prozess zwar sehr präsent, aber Claude [Leonetti], Ged [Byar], Romain [Thorel] und Vincent [Barnavol] kennen meine übliche Begeisterung und akzeptieren sie, weil sie sich umgekehrt ebenfalls ausdrücken dürfen. Ich höre ihnen zu, und sie beeinflussen mich sehr – und das wissen sie auch. Bei uns herrschen Liebe, Respekt, Freiheit und Bewunderung für einander. Diese Komplementarität ist das Geheimnis einer gelungenen Verständigung und Osmose.
eclipsed: Lazuli haben längst ihren eigenen Stil kreiert, und das gilt auch für „Le Fantastique Envol…“. Dennoch habe ich mich gefragt, ob ihr beim Songwriting- und Aufnahmeprozess von neueren Bands beeinflusst worden seid.
Leonetti: Ich selbst nicht. Denn wenn ich texte und komponiere, ist mein Kopf voll und nicht verfügbar. Ged, Vincent und Romain hören mehr Musik als Claude und ich, daher lassen sie in ihrem Spiel auch den Einfluss aktueller Gruppen einfließen. Ich glaube aber, dass die Texte unsere Songs stärker beeinflussen als andere Dinge.
eclipsed: Apropos Einflüsse: „Dieter Böhm“ und „Baume“ haben mich ein wenig an britische Artpop-Bands wie Tears For Fears und The Blue Nile erinnert, und bei manchen Stücken ist auch ein Drum Computer dabei. Haben Lazuli eine geheime Vorliebe für den typischen 80er-Jahre-Sound?
Leonetti: Da hast du wohl Recht. Mir ist das auch aufgefallen, allerdings erst, als die Platte bereits fertig war. Ich habe mal analysiert, warum dem so ist: Als wir Dieters Gefühle beim Hören der Musik beschrieben haben, haben wir wohl unbewusst die Gefühle gesucht, die wir als Jugendliche hatten – vor allem in schwierigen Momenten, die wir mit Hilfe der Musik bewältigt haben. Unsere Jugend war halt in den Achtzigern, was aber nicht für Romain gilt, das Baby der Gruppe. (lacht)
eclipsed: Bei einigen der neuen Tracks dachte ich, dass Lazuli inzwischen einen „echten“ Bassisten haben, aber dann habe ich festgestellt, dass das Romains Keyboard-Bass ist. Würdet ihr trotzdem mal wieder mit einem Bassisten oder einem Chapman-Stick-Spieler arbeiten? Oder ist das aktuelle Lazuli-Line-up perfekt?
Leonetti: Romain spielt einfach wie ein richtiger Bassist, deshalb glaubt man zeitweise einen echten Bass zu hören. Ob das aktuelle Line-up perfekt ist, weiß ich nicht. Wir fühlen uns aber sehr wohl miteinander und haben daher auch nicht nach einem sechsten Mitglied gesucht. Auf alle Fälle müssen wir Romains linke Hand beschäftigt halten. (lacht)
eclipsed: Deine Texte sind erneut eine meisterhafte Kombination aus Form und Inhalt. Wann hast du eigentlich mit dem Texten begonnen?
Leonetti: Ich habe schon mit 14 oder 15 Jahren Songs geschrieben, aber erst drei Jahre später mit dem Gitarrespielen begonnen. Ich hatte einfach ein unkontrollierbares Verlangen, mich auszudrücken, Dinge zu sagen. Dabei war mir der Inhalt immer das Wichtigste, aber im Laufe der Jahre habe ich auch gelernt, die Form zu zähmen.
eclipsed: Ich frage mich, ob dein Interesse an aussagekräftigen Texten von französischen Chansonniers und Dichtern beeinflusst ist?
Leonetti: Leider bin ich kein Gelehrter. Literatur war leider nie ein Teil meiner Erziehung, deshalb versuche ich heute diese verlorene Zeit nachzuholen. Dafür haben mir meine Eltern Fleiß und Arbeitsfreude beigebracht, deshalb hatte ich auch nie Angst vor dem Schreiben oder davor, mich für törichte Geschichte zu engagieren. (lächelt) Ironischerweise gibt es heute Französischlehrer, die meine Texte von ihren Schülern analysieren lassen! Das überrascht mich! Was die französischen Chansonniers angeht, so habe ich nie ihre Musik gehört. Ich bin vor allem von angelsächsischer Musik beeinflusst.
eclipsed: Im April werden Lazuli nach Deutschland zurückkehren, weitere Konzerte sind im Mai und Juni geplant. Das Konzept des neuen Albums würde sich doch perfekt für eine Multimedia-Umsetzung eignen, mit Projektionen wie bei Steven Wilson. Ist das ein Fantraum, der eventuell wahr werden könnte?
Leonetti: Bist du Wahrsager? Ich arbeite tatsächlich seit ein paar Monaten daran, die Bilder des Albums zu animieren! Ich weiß zwar noch nicht, ob ich bis zur Tour fertig werde, aber ich hoffe doch sehr! Obendrein sind auch unsere Finanzen entscheidend, denn wir haben leider nicht das Budget eines Steven Wilson. Die Zukunft wird zeigen, ob sich dein und mein Traum realisieren lässt! (lächelt) Aber egal ob Projektionen oder nicht: Wir sind schon ganz ungeduldig, das neue Album mit denen zu teilen, die es inspiriert haben.
*** Interview: Matthias Bergert