Der ehemalige Genesis-Gitarrist hat sich längst als der produktivste Musiker der Prog-Urväter erwiesen. Nicht nur in Sachen Live-Performances, wo er regelmäßig den alten Genesis-Katalog bespielt („Genesis Revisited“), sondern auch als Solo-Albumkünstler. Nach dem Doppel-Aufschlag von 2021 („Under A Mediterranean Sky“ und „Surrender Of Silence“) legt er nun ein waschechtes Konzeptwerk vor. „The Circus And The Nightwhale“ ist sein persönlichstes Album geworden, mit einer Geschichte, die uns alle in Bezug auf die Höhen und Tiefen des Lebens anspricht. Im Interview mit Steve Hackett beleuchten wir auch seine Konzerte auf der Loreley, wo er im Juli bei der „Night Of The Prog“ auftreten wird, sowie sein freundschaftliches Verhältnis zu Peter Gabriel. Zudem verweisen wir auf seine lesenswerte Autobiografie.
Für Steve Hackett sind Konzeptalben beileibe nichts Ungewöhnliches. So war er nicht nur bei der kryptischen Doppel-LP „The Lamb Lies Down On Broadway“ (1974) – Peter Gabriels Schwanengesang bei Genesis – mit von der Partie, sondern legte schon bald darauf mit seinem Debüt „Voyage Of The Acolyte“ (1975) ein loses Konzeptalbum vor, das sich mit Tarotkarten und deren symbolischen Bedeutungen beschäftigte. Zudem wurden viele seiner späteren Soloalben musikalisch und textlich von Reisen inspiriert, die Hackett auf verschiedene Kontinente geführt hatten. Ende der 2010er Jahre wurde er dabei oft von seiner dritten Ehefrau Jo Lehmann begleitet, die schon seit 2008 an Songtexten mitgeschrieben hatte. Seine reizvollen Akustik- und Klassik-Alben hatten ebenfalls oft einen roten Faden. Inhaltliche Klammern findet man also durchaus auf Hacketts Alben, doch ein stringentes Konzeptwerk mit einer echten Geschichte ist für den 1950 in London geborenen Engländer tatsächlich neu.
Welche Story wird auf „The Circus And The Nightwhale“ in welchen metaphorischen Bildern erzählt? Wie hat der Meistergitarrist dies in musikalische Gemälde verpackt? Und wie viel Prog steckt in diesem Album, das mit Hacketts großartiger Liveband plus Gästen wie Hugo Degenhardt, Malik Mansurov und John Hackett aufwartet? Zur Vorab-Single „People Of The Smoke“ kann man ein erstes Video bewundern, das mit starken Bildern glänzt. Im Zoom-Interview begegnen wir einem äußerst freundlichen und sehr energiegeladenen Künstler, der trotz seiner 73 Lenze ungewöhnlich jugendlich wirkt.
eclipsed: „The Circus And The Nightwhale“ ist dein erstes Konzeptalbum mit einer vollständig entwickelten Handlung. Wovon handelt es?
Steve Hackett: Es ist sowohl autobiografisch als auch universell. Ich spreche in den Texten zunächst in der Ich-Form, wechsle dann aber in die dritte Person, da man im Verlauf seines Lebens zu jemand anderem wird. Das Leben jedes Menschen ist eine heroische Sinnsuche. Jeder hat die Herausforderungen des Lebens zu bestehen. Und am Ende des Tages begegnen wir alle der ultimativen Tragödie, dem Tod. Wenn man diesen nur als das unvermeidliche Ende sieht, ist das tragisch. Nicht aber, wenn man ihn als eine Transformation versteht, das Ende von etwas, aber auch den Beginn von etwas Neuem. Tatsächlich glaube ich an ein Leben nach dem Tod und auch daran, dass die Liebe überlebt. All das steckt in der Story.
eclipsed: Aber es ist doch auch eine richtige Geschichte, oder? Was hat es mit der Radiostimme und all den Geräuschen gleich im ersten Song „People Of The Smoke“ auf sich?
Hackett: Ja, richtig, das Album ist als eine Erzählung konzipiert. Das Ganze beginnt mit diesen Radiostimmen aus den Fünfzigern in einer sehr harten und dreckigen, verschmutzten Welt in London nach dem Zweiten Weltkrieg, genau gesagt im Jahr 1950. Große Teile der Infrastruktur waren immer noch zerstört, jedenfalls besonders in der Gegend, in der ich aufwuchs. Ich selbst stand ganz am Anfang der sogenannten Babyboomer-Generation. Langsam kehrten die Menschen zu ihren normalen Alltagsgeschäften zurück. Ich glaube, in Deutschland war es ganz ähnlich. Diese Radiostimmen dienen dann wie in einem Film dazu, den Rahmen für die Szene zu setzen. Es war noch die Welt vor dem Rock’n’Roll. Vor den Beatles, vor Chuck Berry. Vor all dem, was die Musik bis zum heutigen Tage antreibt. Wenn die Geschichte sich dann weiterentwickelt, wird es metaphorischer. Kindheitserinnerungen. Liebeslieder. Persönliches Wachstum…
eclipsed: Wofür genau stehen „The Circus“ und „The Nightwhale“?
Hackett: Der Zirkus fungiert als Metapher für eine Liveband oder das Musik-Business generell. Alles, was für das Auf und Ab des Lebens und das unstete Leben eines fahrenden Musikers von Ort zu Ort steht. Der Nachtwal bedeutet, sich seinen schlimmsten Ängsten zu stellen und sich grundlegend zu verändern. Er steht auch für den Übergang vom Tod zu einer Art Neugeburt, nachdem man sich den schwierigsten Herausforderungen stellen musste. Damit kann der Druck aufgrund geschäftlicher Angelegenheiten gemeint sein, aber auch andere persönliche Schwierigkeiten. An einem Punkt meines Lebens standen die Dinge für mich als Künstler sehr schlecht (nach der Scheidung von seiner zweiten Frau Kim Poor im Jahr 2007; Anm.), aber ich habe es geschafft, all das zu überleben. Ich glaube, wenn man das Schlimmste übersteht, geht man daraus stärker hervor. In meinem Falle heißt das: ich zusammen mit meiner Frau Jo. Wenn man seinen tiefsten Punkt überwindet, kann dies zu einer Art Erleuchtung oder Neugeburt, einer transzendenten Erfahrung werden. Zumindest ist das die Botschaft, die ich vermitteln will.